Die Fotografie ist populär, das Nachdenken über sie - wie sie eingesetzt wird, wie sie uns beeinflusst - ist es hingegen nicht. Doch das muss ja nicht so bleiben.
» Studies in Photography
» Über Ansel Adams
» Was wir sehen sollen
» Die Entdeckungsreise
» Die Macht der Fotografie
» Die Welt zeigen, wie sie ist
» Warum trägt das Mädchen keine Kleider?
Siehe auch » Inszenierte Wahrheiten
Über Ansel Adams
Ansel Adams (1902-1984) war wohl der Fotograf des amerikanischen Westens. In der westlichen Konsumgesellschaft, und besonders in den USA, sind seine Landschaftsstudien als Posters und Postkarten mehr in Souvenierläden als in Kunstgallerien zu finden. Kaum ein Fotograf, dessen Bilder so allgemein geschätzt und so wenig kontrovers aufgenommen werden.
Charles und Olive Adams gaben ihrem Sohn die Freiheit, seinen Talenten und Neigungen zu leben. Als er im Alter von zwölf nicht mehr zur Schule gehen wollte, wurde er fortan zu Hause in Griechisch, die englischen Klassiker, Algebra als auch in die Pracht des Ozeans, der Buchten und felsigen Strände nahe ihrem Heim bei San Francisco eingeführt.
Nur gerade vierzehnjährig fand er seine Passion: Auf einem Familienausflug in den Yosemite National Park beschenkten ihn seine Eltern mit einer Kodak Box Brownie, welche ihm erlaubte die majestätische Schönheit, die ihn dort umgab und ein Leben lang begleiten sollte, festzuhalten – im Jahre 1985 wurde im Yosemite sogar ein Berg nach ihm benannt, der 3'618 Meter hohe Mount Ansel Adams
Doch es sollte noch Jahre dauern – er schwankte zwischen der Musik und der Fotografie – bis er sich auf seine Bestimmung einliess. Den Ausschlag gab die “straight photography” von Paul Strand, mit dem Adams 1930 zusammentraf, und bei der es darum ging, sich nicht mehr länger an der Malerei zu orientieren, sondern die Mittel des genuin Fotografischen (etwa Schatten, Strukturen, Ausschnitte) auszuloten.
Adams war ein Techniker, er propagierte eine detaillierte technische Theorie, die jedem versprach, er könne gute Fotos machen, solange er eine Anzahl vorgegebener Schritte befolgte.
1932 gründete er mit Edward Weston, Imogen Cunningham und andern die Gruppe f/64. Sie setzten sich ein für eine Fotografie der grösstmöglichen Tiefenschärfe und genauen Detailzeichnung, was mit der f/64, der damals kleinsten Blende, am besten möglich war. Die Gruppe beschäftigte sich bevorzugt mit Nahaufnahmen.
1933 traf Adams mit dem berühmten Fotografen, Galleristen und Förderer Alfred Stieglitz, dem Ehemann von Georgia O’Keefe, zusammen. “Stieglitz lehrte mich”, sollte Adams später in seiner Autobiografie schreiben; “was zu meinem ersten Gebot wurde: Kunst ist die Bejahung des Lebens.”
Die Pracht der Natur zu vermitteln und zu verteidigen wurde ihm zur selbst auferlegten Aufgabe. Das Besondere an seinen Landschaftsbildern ist, dass “sie nicht von der Geologie, sondern vom Wetter handeln”, so der legendäre John Szarkowski vom New Yorker MoMA
Adams war nicht nur ein aussergewöhnlicher fotografischer Techniker und Ästhet, er war auch ein Umweltaktivist, dem ganz besonders der Schutz der Sierra Nevada, der etwa 650 Kilometer lange, über 3'000 Meter hohe Gebirgszug im Westen der USA, am Herzen lag. Er hat jedoch betont, dass er niemals Aufnahmen mit dem Gedanken an Umweltschutz gemacht habe. “Alle meine Fotos sind der Tatsache zu verdanken, dass ich vor Ort war, die Berge liebte und mir ein Bild machte.” Dass diese Fotos dann für Umweltschutzkampagnen eingesetzt worden sind, hat ihn gefreut.
Doch er wurde auch selber aktiv und schon bald als der inoffizielle Sprecher für die Gründung von Nationalparks angesehen. Lyndon Johnson, Gerald Ford und Jimmy Carter luden ihn ein, um über Umweltpolitik zu diskutieren; Reagans Innenminister James Watt hingegen, ein Mann, der das Ende der Welt nahe wähnte und unter anderem das Abholzen in den Nationalparks erlaubte, beschuldigte er einer Politik des “Nach mir die Sintflut.”
Über die Popularität, die die Nationalparks heute geniessen, wäre Adams jedoch kaum besonders glücklich. Es sei sicherlich nichts verkehrt am Campieren, Fischen, Boot Fahren, Schwimmen etc., schrieb er einmal, doch gehöre weder das Ping-Pong-Spiel in eine Kathedrale noch das Rascheln mit der Popcorn-Tüte in ein klassisches Konzert. Der Mensch bedürfe auch der Stille und müsse auch den lebenden Felsen berühren, reines Wasser trinken, grossartige Aussichten geniessen, unter dem Sternenhimmel schlafen und von einer kühlen Brise geweckt werden können. “Solche Erfahrungen”, so Adams, “ sind das Erbe von uns allen.”
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Was wir sehen sollen
Neu ist das alles nicht: Am Sonntag, dem 25. Juni 2006, berichteten verschiedene Medien, dass vier im Irak entführte russische Botschaftsmitarbeiter von ihren Kidnappern getötet worden seien. Ein Video der Tötung war im Internet abrufbar.
„Die Bilder zeigen die vier am 3. Juni entführten Botschaftsmitarbeiter, die in die Kamera sprechen. Danach ist eine Szene zu sehen, in der ein Vermummter zur Enthauptung einer der Geiseln ansetzt. In einer späteren Sequenz sieht man zwei Leichen ohne Köpfe und eine Blutlache auf dem Boden“, war auf Spiegel online zu lesen.
Von der BBC war zu hören, das Video zeige, wie einer geköpft und ein anderer erschossen werde. Zu sehen sei auch ein weiterer, der geköpft worden sei, und der am Boden liege; auch der Vierte sei umgebracht worden. Die Associated Press berichtete, das 90-Sekunden-Video zeige wie zwei Männer mit verbundenen Augen geköpft und ein Dritter erschossen werde.
Was dieses Video genau zeigt, scheint also alles andere als eindeutig. Doch ist das eigentlich wichtig? Wollen wir wirklich im Detail wissen, was sich da vor Ort zugetragen hat? Falls ja, müssten wir uns wohl das Video selber anschauen. Und das wollen die meisten von uns nicht. Weil wir, aus Selbstschutz, ganz generell die Dinge nicht so genau wissen wollen. Wie bemerkte doch Friedrich Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse so treffend: „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein“.
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Doch nicht alle Menschen wollen flüchtig und leicht (ob auch falsch, beschäftigt uns hier nicht) durchs Leben gehen, es gibt auch solche, denen es um das genaue Hinschauen zu tun ist. So haben britische Fernsehsender das Video einer Überwachungskamera ausgestrahlt, das zeigt, wie der 20-Jährige Student David Pollen im Juli 2005 in London zunächst geschlagen und dann mit einem Messerstich getötet wurde. Im Film zu sehen ist, so Spiegel online, „wie die beiden 20-jährigen Medizinstudenten Pollen und Andrew Griffiths im Juli 2005 in der Nacht auf dem Parkplatz vor einer Londoner Diskothek auf eine Freundin warten. Zu ihnen stoßen ein 16-Jähriger und seine beiden 19 und 25 Jahre alten Begleiter, die zunächst auf dem Film gut gelaunt erscheinen - bis das Trio die beiden angreift. Zunächst brechen sie beiden mit Schlägen den Kiefer, anschließend zieht der 16-Jährige sein Messer und versetzt Pollen einen tödlichen Stich in die Brust. Dann greift er auch den anderen Studenten mit dem Messer an, dieser überlebt schwer verletzt. Schließlich stehlen die drei Pollen das Handy, setzen sich in ihr Auto und fahren davon. Der Vorfall dauerte weniger als 40 Sekunden.“
Ausgestrahlt wurde das Video, weil die Eltern von David Pollen und die Polizei ausdrücklich um die Ausstrahlung gebeten hatten: Die Sinnlosigkeit des Verbrechens sollte gezeigt werden, aufrütteln und abschrecken sollten die Bilder.
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Am 16. Juni 2006 brachte die Süddeutsche Zeitung einen Bericht über den „Krieg der Bilder“ in Nahost und schrieb: „Dass Palästinenser im Nahost-Krieg um die Bilder fälschen oder falsche Bilder in Umlauf bringen, ist nicht neu. In den Medien spricht man seit einer aufsehenerregenden Dokumentation des US-Magazins „60 Minutes“ von „Pallywood“ - in Anlehnung an Hollywoods Filmindustrie. In der Dokumentation sind zum Beispiel Palästinenser aus der jüngsten Intifada zu erkennen, die einen Toten auf einer Trage tragen. Einer stolpert, der angebliche Tote fällt auf den Boden - und springt behend wieder zurück auf die Trage, legt sich hin und mimt einen Toten.“
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Woran, fragt sich der interessierte Medienbeobachter, kann man sich da eigentlich noch halten? Woran sich orientieren? Was überhaupt noch glauben?
Wer bestimmt eigentlich, welche Bilder wir sehen können und welche nicht?
In der heutigen Zeit sind dies in erster Linie diejenigen, welche die Bilder machen und dann beschliessen, dass sie auch von anderen gesehen werden sollten und sie deshalb ins Internet stellen. Diesem Vorgang verdanken wir die Fotos von Abu Ghraib. Und wir verdanken ihm auch, dass wir, trotz dem Verbot der Regierung Bush, keine Särge von amerikanischen Irak-Toten zu zeigen, trotzdem Fotos von solchen Särgen zu sehen bekommen haben (mittlerweile haben auch die Massenmedien nachgezogen; zudem ging der Pulitzer Prize for Feature Photography 2006, für Bilder vom Heimkommen toter US-Soldaten aus Irak, an Todd Heisler von den "Rocky Mountain News). Schliesslich schauen wir uns alle das am liebsten an, was man uns, aus was für Gründen auch immer, vorenthalten will.
Auch beim Fernsehen ist bekannt, dass wer Bilder sehen will, am ehesten im Internet fündig wird. So schrieb der Chefredaktor des Deutschschweizer Fernsehens anlässlich des Streits um die Mohamed-Karikaturen im Februar 2006 in seinem Weblog: „... Wir haben darauf verzichtet, die Zeichnungen 1:1 in unsern Newssendungen zu zeigen und uns dabei als Tabu-Brecher und als Retter der Aufklärung zu feiern. Das wäre zu billig. Die Zeichnungen eignen sich nicht als Rohmaterial für Nachrichten. In einem grösseren Zusammenhang ist es hingegen sehr wohl möglich, die Karikaturen zu zeigen und darüber zu sprechen, so wie wir es bei van Goghs Film getan haben. Wir enthalten dem Publikums mit dieser Haltung nichts vor; wer die Zeichnungen sehen will, findet sie mit Google in einer Sekunde ...“
Effizienter kann man sich eigentlich nicht demontieren. Vorausgesetzt natürlich, man versteht unter Aufklärung etwas Positives. Oder steht diese womöglich den Einschaltquoten im Weg?
Der Grund, ein Bild nicht zu veröffentlichen, hat selten etwas mit Ethik oder den einschlägigen Argumenten zu tun, die öffentlich debattiert werden und wo man jeweils hören kann, dass, auch wenn die Veröffentlichung eines Bildes rechtlich erlaubt sei, dies noch lange nicht heisse, dass solches Öffentlich-Machen auch klug sei, denn schliesslich gehöre es sich nicht, Öl ins Feuer zu giessen, wenn die politische Lage schon genug angespannt sei. Und auch dies: es gelte abzuwägen, Anstand, Respekt und Rücksicht auf Minderheiten, andere Meinungen etc. zu nehmen, man müsse die Dinge im Kontext sehen und so weiter.... man kennt das.
Ob man sich aus Sensibilität oder fortgeschrittenem Multikulturalismus so äussert, ist schwer zu sagen, wahrscheinlicher jedoch ist, dass man ganz einfach nicht Gefahr laufen will, zur Zielscheibe irgendwelcher Militanter (oder von Forderungen nach Schadenersatz) zu werden. Das ist verständlich. Von Zivilcourage zeugt es nicht. Wer diese bei den Massenmedien sucht, wird nur ausnahmsweise fündig werden.
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Die Frage bleibt: was darf, was soll man zeigen? Kommt ganz drauf an, wie man dem Gedankengut der Aufklärung gegenüber eingestellt ist. „Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ hat Immanuel Kant (in: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?).als den Wahlspruch der Aufklärung bezeichnet. Und „Faulheit und Feigheit“ als die Ursachen ausgemacht, weshalb wir „gerne zeitlebens unmündig bleiben“, denn: „Es ist so bequem, unmündig zu sein.“
Sich selber ein Urteil bilden zu können, setzt voraus, dass man angemessen informiert ist. Das schliesst Bildinformationen mit ein. Weshalb denn auch gilt: je mehr Bilder, desto besser. Mit dem dazugehörenden, erläuternden Text. Damit wir verstehen, was wir anschauen. Und nicht nur einzelne Fotos, nicht nur Momentaufnahmen, sondern Bild-Sequenzen, die uns das Vorher und das Nachher zeigen und uns ein Ereignis als Prozess erfahren lassen – und uns damit erst in die Lage setzen, uns ein eigenes Urteil zu bilden.
Erstveröffentlichung in www.morgenwelt.de am 2.1.2007,
da jedoch nicht mehr abrufbar.
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Die Entdeckungsreise
Eine Fotografie erlaube, ‘die Zeit zu sehen’, las er bei Aumont.
Er hielt inne, dachte an eine schwarz/weiss Aufnahme, auf die er beim Räumen der elterlichen Wohnung gestossen, und die seine Mutter zusammen mit ihren drei Geschwistern zeigte. Links aussen die grossgewachsene, ältere Schwester, Maria, mit dem ältesten Bruder, dem schlaksigen Robert, an ihrer Seite, gefolgt von Helena, der Mutter, ganz nahe bei Franz, dem Jüngsten, stehend. Nie war ihm bewusster, dass seine Mutter einmal ein junges Mädchen gewesen.
Er wusste, dass Maria, seine Gotte, Grossvaters Liebling war, und dass die Mutter sich schon früh hatte wehren müssen, um nicht, wie sie sagte, zu kurz zu kommen. Franz, sein Götti, stand Helena am nächsten, auch auf dem Foto.
Er hatte sich Helenas Aufwachsen aus bruchstückhaften Schilderungen, die sie meist widerstrebend und häufig erst auf Nachhaken preisgab, zusammengereimt. Sie mochte kein Aufhebens machen. Die Bilder, die sich nach und nach in seinem Kopf festgesetzt, sah er jetzt auch auf dem Foto.
Hubert erinnerte sich an eine Stelle in Robert Pirsigs ‘Lila’: Phaedrus, der Protagonist der Geschichte, stiess bei der Segel-Lektüre auf eine Beschreibung des green flash der Sonne. Er wunderte sich, was das nun wieder war. Wieso hatte er diesen nicht gesehen? Er war sich sicher, dass er diesen green flash der Sonne noch nie gesehen hatte. Doch er musste ihn gesehen haben. Doch wenn er ihn gesehen hatte, wie kam es dann, dass er ihn doch nicht sah? …Er sah den green flash nicht, weil ihm nie gesagt worden war, ihn zu sehen … Die Kultur hatte ihm von dem green flash nicht erzählt, und so hatte er ihn auch nicht gesehen. Hätte er dieses Buch übers Segeln nicht gelesen, da war er sich sicher, hätte er wohl auch nie diesen green flash gesehen.
Hubert schätzte Pirsig sehr, sein ‘Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten’ war eines der wenigen Bücher, das er mehrmals gelesen hatte. Es handelte von einer Motorradfahrt durch Amerika, einer Fahrt, die dem Autor den ruhigen Geist verschaffte, der nötig ist, wenn man den Versuch wagt, Qualität zu definieren. Er erkannte dabei, dass wir zwar alle instinktiv fühlen, was Qualität ist, doch nicht in der Lage sind, sie rational zu fassen.
Plötzlich durchfuhr Hubert ein eigenartiges Glücksgefühl. Bei seiner Beschäftigung mit Fotografie war er auch auf einen Gedanken gestossen, der gleichzeitig bestechend einfach und ihm so gänzlich neu war, dass er ihn in höchstem Grade verblüfft zur Kenntnis nahm: Verstehen sei ein Gefühl, hiess es da. Das war auch Pirsigs Wahrheit! Hubert konnte sich nicht erinnern, jemals reiner und klarer empfunden zu haben..
Das Glücksgefühl hielt Wochen und Monate an, erst als seine Arbeit über Dokumentar-Fotografie fertiggestellt und sein Geist sich wieder mit Anderem beschäftigte, begann es abzunehmen, bis es schliesslich fast gänzlich verschwand. Nur noch gelegentlich, und auch dann nur ganz flüchtig, erreichte ihn die Erkenntnis, dass, um eine Sache zu verstehen, man sie fühlen müsse.
Jetzt, wo er nicht mehr mit einer einzigen Sache befasst war, fiel er wieder auf sein altes Zweifeln zurück. Die Stimme in seinem Kopf war laut, auflehnend und sie war voller Ärger: ‘Ich will nicht sehen, was andere sagen, dass ich sehen soll. Ich will sehen, was ich will.’
Wenn er mit seiner Frau durch die Strassen von Bellinzona spazierte, entdeckte er regelmässig, auch nach einem Jahr Aufenthalt in der Stadt, immer wieder architektonische Besonderheiten, die ihn zum Staunen brachten, nicht weil diese so aussergewöhnlich gewesen wären, mehr weil er sie bis anhin, obwohl er doch schon unzählige Male diese Wege gegangen, noch nie bewusst wahrgenommen hatte. Seiner Frau ging es ebenso, und so machten sie es sich zum Spiel, einander auf Erker, Dächer, Fenster, Türen, Balkone, Treppen und andere Dinge mehr hinzuweisen, an denen sie vorher achtlos vorbeigegangen waren.
Einige Jahre zuvor, er war damals noch nicht verheiratet, machte Hubert zusammen mit einem Schulkameraden aus dem Gymnasium, der inzwischen Kunsthistoriker geworden und in Chur ein eigenes Büro betrieb, Ausflüge ins Bündnerland. Der Kunsthistoriker wies ihn auf Bauten hin, die Hubert wohl gar nie aufgefallen wären, vor allem jedoch erzählte er ihm Geschichten von Architekten, von Stilen, von Epochen; er liess Hubert an seiner Welt teilhaben, engagiert und eloquent, Hubert fühlte sich beschenkt.
An diese Zeit dachte Hubert manchmal, wenn er mit seiner Frau durch die Strassen von Bellinzona spazierte. Und so sehr ihn diese Gänge auch beglückten, er wusste, dass ihm allzuviel entging, weil er darauf beharrte, sich nichts zeigen zu lassen, die Dinge selber entdecken zu wollen.
In Cardiff war Hubert einmal mit Daniel, dem Fotografie-Dozenten, zum Mittagessen gegangen. Daniel redete von Greil Marcus, der Hubert bislang nur als Musik-Journalist ein Begriff war, und dessen Buch ‘The Dustbin of History’, einer Sammlung von Essays über Bücher, Musik und Filme. Dass Fotografie etwas mit Rockmusik, dem Ein und Alles seiner Jugend, zu tun haben könnte, war Hubert neu, es elektrisierte ihn.
Er solle seine eigene Geschichte in seine Arbeit einbringen, hatte ihm Daniel geraten. Und Hubert tat für einmal wie geheissen. Eine Welt tat sich ihm auf. Das Vorwort von Robert Franks ‘The Americans’ stammte von Jack Kerouac, Kerouac hatte er damals verschlungen, von Frank noch nie gehört.
‘Preisen will ich die grossen Männer’ von James Agee und Walker Evans befand sich sogar schon lange, ungelesen, in seinem Besitz. Der Autor Agee und der Fotograf Evans begaben sich 1936 in den Süden der Vereinigten Staaten, wo sie mehrere Wochen bei drei mausarmen Pächterfamilien verbrachten und deren Not dokumentierten. Hubert hatte das Buch einer lobenden Besprechung wegen erstanden, jetzt las er: ‘Vor allem: Haltet es in Gottes Namen nicht für Kunst. Jede Wut auf Erden ist mit der Zeit in der einen oder anderen Form als Kunst oder als Religion oder als Autorität aufgesaugt worden. Der vernichtendste Schlag, den der Feind der menschlichen Seele führen kann, ist der Wut Ehre zu erweisen. Swift, Blake, Beethoven, Christus, Joyce, Kafka, nennt mir einen, der nicht auf diese Weise verstümmelt wurde. Offizielle Billigung ist das eine unverkennbare Symptom, dass das Heil wieder Schläge einsteckt, und ist das sichere Zeichen für ein Missverständnis, und ist der Judaskuss.’
Da war sie wieder, diese radikale Subjektivität, die Hubert im Laufe der Jahre allmählich fast abhanden gekommen und die ihm doch immer so notwendiges Lebenselixier gewesen. Er empfand eine Energie in sich hochsteigen wie schon lange nicht mehr. Das hatte auch mit Daniel zu tun, hatte doch der ihn ermuntert, seine Arbeit zu einer Entdeckungsreise werden zu lassen.
In allem, was Hubert fortan sah, in allem, was er fortan las, sah er plötzlich einen Zusammenhang zur Fotografie. Er schrieb ohne Unterlass und zitierte aus der ‘Sun’ und aus der ‘Times’, von Szarkowski und von Seabrook, von Enzensberger und von Hobsbawm, aus ‘Visual Communication’ und aus ‘About this Life’.
Auf einmal fühlte er sich wieder aufgeregt wie als Kind. Und wollte davon erzählen, was er gefunden und entdeckt. Oft redete er auf Dimitrios von nebenan ein. Er kenne doch bestimmt diesen Satz, dass ein Bild mehr als tausend Worte sage? Also ein Schmarrn sei das, ein absoluter Schmarrn, denn es sei genau umgekehrt, man brauche in Tat und Wahrheit tausend Worte um ein Bild zu verstehen. Von dem Robert Capa gebe es doch dieses berühmte Bild aus dem spanischen Bürgerkrieg, wo ein Milizionär von einer Kugel tödlich getroffen zu Boden gehe. Wüssten wir das nicht, könnten wir das auch gar nicht sehen, vielleicht sähen wir dann einen Milizionär, der auf der glatten Erde ausrutscht.
Oder hier, ein anderes Beispiel. Im Buch von John Berger übers ‘Sehen’ zeige ein Gemälde eine Landschaft mit einem Kornfeld und auffliegenden Vögeln. Wende man die Seite um, sehe man wiederum dieselbe Reproduktion, doch diesmal begleitet von einem Text, der alles verändere: ‘Dieses Bild ist das letzte Werk Vincent van Goghs, bevor er Selbstmord verübte’. Nie mehr werde er jetzt dieses Bild mit denselben Augen wie noch gerade zuvor anschauen können, denn diese Information habe seine Wahrnehmung verändert, habe das Bild zur Illustration des Textes gemacht, führte Hubert triumphierend aus.
Im Fernsehen sah er einen Bericht über eine junge, an Aids erkrankte Mutter aus Malawi, deren kleiner Junge sich weinend an sie klammerte. Hubert trieb es die Tränen in die Augen. Hätte er nicht gewusst, dass die junge Frau bald sterben und der Bub dann ohne seine Mutter sein würde, hätte er das Bild wohl anders empfunden, hätte er womöglich einfach einen dieser unzähligen, quängelnden Buben wahrgenommen. Erst die Geschichte hinter dem Bild zeigte ihm das Foto, das er fühlen sollte.
Erwähnte Hubert Bekannten gegenüber, dass er sich für Fotografie interessiere, zeigten ihm diese manchmal voller Stolz ihre digitalen Geräte und was diese alles zu leisten vermochten. Und was man dann nachher alles noch am PC machen konnte. Für Hubert hatte das nichts mit Fotografie zu tun, das war Malerei, da ging es darum, die Welt am Bildschirm nach seinen eigenen Vorstellungen zu modellieren, während ihm selber darum zu tun war, aus seinem eigenen Kopf herauszukommen
Die Welt brauchte nicht erschaffen zu werden, sie war schon da, man brauchte sie nur entdecken zu wollen. Der Fotograf, den Hubert sich wünschte, hatte die Mentalität eines Kriegers, ob Mann oder Frau. Eine solche Person war ständig auf der Hut, aufmerksam und wach, schlief und ass nicht zuviel und nicht zuwenig, war da, gegenwärtig, hier und jetzt. Von einem solchen Menschen wollte sich Hubert Fotos ansehen.
Und auch von einem, der festhalten will, wie seine Familie aussieht. Damit er sich später erinnern konnte, wie es einmal gewesen.
Er griff von neuem zum Foto von seiner Mutter mit ihren Geschwistern. Er kannte die Geschichte hinter dem Bild. Und er fühlte, was er sah.
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Die Macht der Fotografie
Als in den 1950er Jahren das Fernsehen die Welt zu revolutionieren begann, war die Nachfrage nach den beweglichen Bildern, die man sich in den heimischen Stuben anschauen konnte, riesig. So hatten bereits in den 1980ern rund 80 Prozent der Bevölkerung Brasiliens Zugang zu einem Fernseher und man nahm damals gemeinhin an, die Fotografie würde wohl schon bald verschwinden – doch weit gefehlt.
Einer der Gründe ist, dass Fernsehen und Fotografie sehr unterschiedliche Zwecke erfüllen: während das Fernsehen (wie auch Video und DVD) die Bilder zum Laufen bringt, hält die Fotografie sie an, bringt sie zum Stillstand. Und zwingt einen damit zum Innehalten, zum Hinschauen, zum aufmerksamen Konstatieren: es ist dieses für einen Moment Ruhig-Sein, das uns dazu bereit macht, Emotionen wahrzunehmen, sie zuzulassen und auch zu registrieren. Einen weiteren Grund hat die kürzlich verstorbene Susan Sontag in ihrem Artikel über die Folterphotos von Abu Ghraib (The photos are us) ausgemacht: „Leben heisst fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen.“
Weshalb wir denn auch vor kurzem britische Folterfotos, die in der Nähe von Basra aufgenommen worden sind, zu sehen bekommen haben. Begleitet sind sie von den gleichen Reaktionen, die wir im Falle von Abu Ghraib von amerikanischen Politikern gehört haben: dass es sich hier um Einzelfälle handle, das Verhalten der Angeklagten keinesfalls repräsentativ sei, der Grossteil der Streitkräfte vorbildlich, mutig und ehrenvoll seinen Dienst versehe; Premier Blair sprach von „schockierenden und empörenden Szenen“, Oppositionsführer Howard sagte, die Bilder „beschämen unser Land“, die Angeklagten behaupteten, nur Befehle ausgeführt zu haben.
Das hat vor wenigen Tagen auch der gerade zu zehn Jahren Haft verurteilte amerikanische Korporal Charles Grainer, der auf den Fotos von Abu Ghraib in triumphierender Pose hinter einer Pyramide aufgestapelter nackter Gefangener zu sehen gewesen ist, beteuert. Doch auch wenn man durchaus glauben mag, dass das für Folter nötige Klima durch Äusserungen der politischen Führung wohl erst möglich gemacht wurde, so foltert deswegen noch lange nicht jeder. Dass Grainer im zivilen Leben als Gefängniswärter sein Auskommen verdient hat, lässt einen sich übrigens wünschen, im freiesten Land der Welt (so die amerikanische Ideologie), nur ja nie im Gefängnis zu landen.
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Wenn es denn vergleichbare Bilder gebe, meinte Susan Sontag unter Bezugnahme auf Abu Ghraib, dann womöglich die von schwarzen Lynchopfern, aufgenommen zwischen 1880 und 1930, welche amerikanische Kleinbürger zeigen, wie sie unter den nackten Leichen schwarzer Frauen und Männer, die an Bäumen aufgehängt sind, posieren. Zudem waren die Nazis geradezu besessen davon, ihre Kriegsverbrechen in den Konzentrationslagern zu dokumentieren.
Wenn Mediziner wie Mengele pseudo-wissenschaftliche Experimente an Gefangenen vornahmen, gaben sie manchmal den Befehl, diese zu fotografieren. Gelegentlich habe er Farbaufnahmen von abscheulichen gynäkologischen Experimenten, die an jungen Frauen vorgenommen wurden, machen müssen, die dann nach Berlin geschickt worden seien, sagt der heute 87jährige Wilhelm Brasse, der damals als Fotograf in Auschwitz eingesetzt war. Es sei ihm gesagt worden, es habe sich um Bauchkrebsforschung gehandelt.
Also doch nichts Neues, alles schon einmal da gewesen? Der Unterschied sei, wenn es denn einen gebe, dass Kameras heute allgegenwärtig seien., meinte Susan Sontag. In der Tat. Angesichts der Möglichkeiten, auch mit mobilen Telephongeräten, und ohne ein solches kommt man sich heutzutage ja fast nackt vor, Bilder machen zu können, ist abzusehen, dass in naher Zukunft wohl kaum mehr irgendetwas undokumentiert bleiben wird – allein im vergangenen Jahr wurden weltweit mehr von diesen Geräten verkauft als von den digitalen und analogen Kameras zusammen.
Die Dokumentationsflut, so scheint es, wird weiter zunehmen: noch nie, berichtete Focus online, wurden in Deutschland so viele Kameras verkauft wie im Jahre 2004. Das wird uns Aufklärungen bescheren, die sonst wohl unter den Tisch gewischt worden wären, wird uns Bilder von Ereignissen liefern, die uns sonst wohl nie bekannt geworden wären.
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Fotos, um verstanden werden zu können, müssen im Kontext gesehen werden. Der Kontext im Fall von Abu Ghraib ist ein berüchtigtes Gefängnis in einem Krieg und die Fotos zeigten uns, wie es da unter anderem zugeht. Doch Fotos machen nicht nur Dinge sichtbar, sie verschleiern auch – sie tun dies, indem sie unsere Aufmerksamkeit lenken: die meisten von uns werden wohl Abu Ghraib (das Medienbombardement hat dafür gesorgt) heutzutage nur noch mit amerikanischer, nicht jedoch mit irakischer Folter unter Saddam Hussein, in Verbindung bringen.
Doch es gibt noch einen weiteren Kontext: dieser Krieg wurde im Namen der Freiheit, der Demokratie und im Namen von Gut gegen Bös angezettelt – und wir haben auf Bildern vorgeführt gekriegt, dass die selbsternannten Guten weit weniger gut sind, als dass die offiziellen Verlautbarungen uns jeweils glauben machen wollen, und dass sie nicht für Freiheit und Demokratie stehen, sondern für eine, wohl unfreiwillige, Verhöhnung des amerikanischen Idealismus, den es nach wie vor gibt, wenngleich das bei den Herren Bush, Cheney oder Rumsfeld nicht so besonders augenfällig ist. Und was zeigen uns die Folterfotos von Basra? Genau dasselbe, diesmal auf Britisch.
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Die Bilder, die das kollektive Gedächtnis von heute prägen, sind häufig nicht von Profis, sondern von Amateuren gemacht worden. Im Juni letzten Jahres sorgte „Breaking the Silence“, eine Foto-Ausstellung an der Tel Aviv Geographic Film School, in Israel für Aufsehen. Die gezeigten Fotos wurden alle von israelischen Soldaten (welche zum Teil anonym blieben), die in der West Bank stationiert waren, aufgenommen. Die vier für die Ausstellung verantwortlichen Reservisten sagten, gemäss der website von
CNN, sie wollten zeigen, was in den Palästinensergebieten wirklich geschehe. Jeder Soldat wisse, dass die zu Hause keine Ahnung hätten, was da vor Ort eigentlich los sei, äusserte sich ein früherer Soldat.
Der umstrittenste Teil der Ausstellung waren jedoch nicht die Fotos, sondern die auf Video aufgenommenen Zeugenaussagen von mehr als siebzig ehemaligen israelischen Soldaten, die beschrieben, wie sie wahllos mit Tränengas und Granaten, manchmal während mehrerer Stunden, meist leere Gebäude beschossen. Warum solches Verhalten nicht gemeldet worden sei?, fragte ein Kommandeur beim Besuch der Ausstellung. Weil dies nichts Aussergewöhnliches, sondern das übliche Verhalten gewesen sei, wurde ihm geantwortet.
Gibt es da einen neuen Trend? Werden Soldaten jetzt zu Foto-Reportern, zu Video-Journalisten? Die Folterfotos von Basra wurden von Soldaten aufgenommen. Auch die Fotos aus Abu Ghraib stammten von Soldaten. Und wir wissen, dass es auch von dort noch etliche Fotos und Videos gibt, die uns bislang allerdings vorenthalten wurden – im Gegensatz dazu war die Tel Aviver Ausstellung im israelischen Parlament zu sehen.
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“Seeing is believing” sagt man, und niemals ist das mehr wahr, als wenn einem die Bilder zum Ereignis, das man festhalten wollte, abhanden gekommen sind, man also keinen fotografischen Beweis vorlegen kann. Passiert ist dies dem 26jährigen Royal Marine Justin Smith, der zu den am schwersten verwundeten britischen Soldaten in Irak gehört, wie die online Ausgabe der Times berichtete.
Als er heftig blutend an einem staubigen Strassenrand in Basra lag, fragte ihn ein Kamerad, ob er fotografiert werden wolle? Er machte ein paar Aufnahmen, die Smith blutüberströmt, im Dunkeln liegend, zeigten, doch die ‚bloody camera’, so Smith, sei irgendwo zwischen Irak und dem Vereinigten Königreich verloren gegangen und das sei fast das Schlimmste gewesen, weil er ohne die Fotos nämlich nicht habe beweisen können, dass er fast sein Leben verloren habe.
Wem hat er denn da überhaupt was beweisen müssen? Und wozu? Er selber wusste doch, wie es um ihn gestanden hatte, reichte denn das nicht? Natürlich nicht. Schliesslich riskiert der Marine Smith sein Leben im Auftrag, und für den Ruhm, seiner Regierung. Und das möchte er anerkannt sehen. Weshalb er sich denn auch gegen die Heimlichtuerei, die Kriegsverletzte umgibt, wehrt, und offen und öffentlich über seine Erfahrungen redet. Er sei enttäuscht, dass kein Regierungsmitglied sich an seiner Lage interessiert gezeigt habe, sich niemand mit ihm in Verbindung gesetzt hätte. „I didn’t get anything at all, though it would have been nice“, meinte er gegenüber dem Times-Reporter.
Erstveröffentlichung auf www.morgenwelt.de am 8.2.2005,
da jedoch nicht mehr abrufbar
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Die Welt zeigen, wie sie ist
„Auf Fotos“ so Susan Irvine im Sunday Telegraph Magazine über den Designer Calvin Klein, „sieht er attraktiv, gebräunt, wie die typische amerikanische Erfolgsgeschichte eben, aus. Im richtigen Leben wirkt er hingegen verwelkt, gebeugt, nervös von einem Fuss auf den andern tanzend.“
Ceci n’est pas une pipe kommentierte der Maler René Magritte sein Bild einer Pfeife. Ein Bild einer Pfeife ist also immer nur gerade das: ein Bild einer Pfeife. Das gilt auch für Fotos, obwohl – und ganz anders als Gemälde von Pfeifen – sie uns eigenartig real vorkommen
Schauen wir uns Fotos an, so gehen wir davon aus, dass sie uns zeigen, wie etwas einmal ausgesehen hat; und obwohl wir wissen, dass an ihnen manchmal rumgebastelt wird, gehen wir doch davon aus, dass sie uns die Wirklichkeit zeigen, wie sie vorgefunden wurde, ja dass sie wahr sind – bis jemand kommt und uns zeigt, dass sie manipuliert worden sind. Geschieht dies, so fühlen wir uns getäuscht, denn wir erwarten von Fotos, dass sie uns the real thing und nicht etwa ein fake zeigen.
Sicher ist: manipuliert wurden Fotos schon immer, doch dass solches die Regel, lässt sich kaum behaupten, und auch wenn wir diesbezüglich keine einschlägigen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse zitieren können (es sei gestanden: wir haben uns auch gar nicht darum bemüht), sind wir uns dennoch gewiss, dass dem Menschen Fotos vor allem Erinnerungs- und Beweisstücke sind – und nicht zuletzt deswegen will er sie echt, und will er sie wahr. Denn auch der moderne Mensch von heute, dem fast alles relativ und selten etwas klar, will weder angelogen noch seiner Geschichte beraubt werden.
Es ist nicht ohne Ironie, dass je mehr die Technologie fortschreitet, desto weniger wir dem trauen können, was sie hervorbringt: digitale Fotos bestehen aus Pixel, und Pixel können verändert werden – und zwar ohne dass dies im Nachhinein festgestellt werden kann. Mit anderen Worten: die Technologie hat das Lügen mittels Fotos leichter gemacht.
Klar, nicht alles, was dem Menschen möglich, wird er deshalb auch gleich tun. Schliesslich lügen wir auch nicht ständig, obwohl wir es eigentlich könnten (es gibt Ausnahmen, sie gelten als krank). Und so ist auch nicht anzunehmen, dass wir plötzlich (nur weil es die Technologie möglich macht) nur noch präparierte Fotos zu sehen kriegen – die Rede ist hier von Fotos, die einen dokumentarischen Wert haben sollen. Gleichzeitig ist jedoch davon auszugehen (wir leben in Zeiten, in denen die Profitmaximierung nicht angezweifelt, sondern allgemeines Leitprinzip geworden), dass ein Redakteur, der mit Adobe Photoshop einen Leoparden aus dem Zoo (er lässt einfach das Käfiggitter verschwinden) vor einen Sonnenaufgang im afrikanischen Busch platzieren kann, sich den Aufwand und die Kosten für eine fotografische Dienstreise nach Kenia wohl sparen wird. Wobei wir bei der Frage angelangt wären, um die es letztlich geht: was wollen wir eigentlich von Fotos?
Wir wollen, dass sie uns zeigen, was der Fotograf vorgefunden hat.
Zugegeben, das will nicht jeder. Für die Digitalisten, wie Kevin Robins in the photographic image in digital culture schreibt, ist das zuwenig, ihnen waren die Möglichkeiten der herkömmlichen Fotografie immer schon sehr begrenzt, waren der Imagination des Fotografen immer schon Schranken gesetzt. Doch sie wollten mehr: Freiheit in der Bildgestaltung, Kontrolle über den Prozess des Bildermachens. Ihnen war wichtig, uns die Welt zu zeigen, wie sie sie sehen wollten (und wir sie sehen sollten), und nicht die Welt, wie sie sich dem Kameraauge darbot. Die digitale Fotografie gab ihnen nun die verführerische Gelegenheit, Gott zu spielen – jedenfalls am PC. Jetzt konnte man abbilden, was sich im eigenen Kopf fand, jetzt konnte man tun, was früher die Maler getan: den Chip in den PC, ein paar Klicks mit der Maus, und fertig ist das Bild, das man gewollt. Nur eben: das ist eher Malerei denn Fotografie.
Nichtsdestotrotz: solcherart an Fotos rumzumachen ist in unseren Zeiten des Scheins (wo es durchaus akzeptabel scheint, sich Nasen, Brüste und Hintern zu korrigieren – als ob man sagen würde: wenn der Herrgott doch nur mich hätte machen lassen), kommt nicht allen Fotografen problematisch vor. Gleichzeitig scheint es jedoch auch keine Opposition zu geben, vom PC veränderte Fotos als solche zu deklarieren.
Also alles paletti? Hinzufügen, entfernen, ändern, macht, was ihr wollt, solange ihr nur schön deklariert, was ihr getan habt – ist das die Lösung? Selbstverständlich sollen die mittels PC veränderten Fotos als solche kenntlich gemacht werden, doch das ist genau so weit weg von einer Lösung wie die Büchsen, auf denen uns die Zusammensetzung ihres Inhalts mitgeteilt wird, in den Regalen unserer Supermärkte – kein Mensch, einmal abgesehen von kritischen Konsumenten, beachtet solche Kennzeichnungen. Wir kaufen die Büchsen, weil wir darauf vertrauen, dass uns die Hersteller nicht übers Ohr hauen wollen.
Genau so wollen wir auch darauf vertrauen können, dass der Fotograf uns nicht reinzulegen trachtet, dass er uns die Dinge zeigt, wie sie sind.
Doch ist die Vorstellung, die Wirklichkeit liesse sich von einem Kameraobjektiv einfangen, und zwar so, wie sie ist, nicht eine Illusion? Sieht denn nicht jeder die Welt sowieso auf seine eigene Art und Weise? Sicher, doch es gilt auch dies: wir wissen zwar nicht, ob, wenn wir eine gerade aufgegangene Rose uns anschauen, unser Nebenmann dieselbe Rose sieht. Doch wir gehen davon aus. Nicht zuletzt, weil sonst die Augenärzte wohl heillos überfordert wären.
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Als 1839 die Fotografie aufkam, trat sie (auch) an die Stelle der Malerei, die ihr zu Beginn noch Vorbild war.
Foto Pioniere wie William Henry Fox Talbot oder Julia Margaret Cameron begriffen die Kamera als Aufnahmegerät, deren Aufgabe war, aufzuzeichnen, was sich ihrer Linse darbot. Der Fotograf (immer gilt: oder die Fotografin) bemühte sich dabei um Kompositionen, denen Gemälde Pate gestanden hatten. Anders gesagt: man versuchte, Fotos zu schaffen, die wie Gemälde aussahen.
Das Faszinierende, das Aussergewöhnliche war: die Kamera erlaubte, den Augenblick zum Stillstand zu bringen, ihn festzuhalten; sie erlaubte, die Zeit zu sehen.
Das ist, was die Fotografie auszeichnet, sie einzigartig macht.
Aufgabe der Fotografie (der dokumentarischen) ist, die Dinge so darzustellen, wie sie sind – und nicht wie wir sie gerne hätten; ihre Aufgabe ist, persönliche Aufzeichnungen von Vorkommnissen in der physischen Welt zu machen – damit andere sehen können, was der Fotograf ausgeschnitten und eingerahmt, wovon er Zeuge gewesen; ihre Aufgabe ist, eine Geschichte zu erzählen. „Schau, was mir meine Augen zu sehen erlaubt haben!“ drücken
solche Bilder aus. Und genau so: „Schau, was ich meinen Augen zu sehen erlaubt habe!“
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Was einen guten Fotografen von einem weniger guten Fotografen unterscheidet, ist sein Auge für Komposition. Was darunter genau zu verstehen ist, lässt sich schwer beschreiben, doch ein Fotografie-Interessierter wird instinktiv ein gutes Foto erkennen können. Warum? Weil man Qualität zwar nicht definieren, jedoch spüren kann.
Wenn es nun also vor allem drauf ankommt, ob ein Fotograf das entsprechende Auge hat, so kann es doch eigentlich keine Rolle spielen, was für eine Kamera, ob eine herkömmliche oder eine digitale, er benutzt? Kommt halt ganz drauf an, aus was für einem Grund der Mann Fotos macht, und was er mit seinen Fotos bezweckt.
Kein Mensch käme auf die Idee, von Werbefotografien Authentizität zu erwarten; von Fotos, die uns vom Krieg erzählen, verlangen wir dies hingegen schon. Anders gesagt: wer Fotos als Dokumente begreift, wird mit einer anderen Einstellung ans Bilderaufnehmen gehen als einer, dem die Ästhetik zuerst kommt. Das heisst nicht, dass die Ästhetik bei dokumentarischen Fotos nicht zählt, das heisst nur, dass bei solchen Fotos vor allem entscheidend ist, dass sie echt und wahr, und nicht dass sie schön sind – es versteht sich: was wahr, ist oftmals auch schön.
Doch was ist schon wahr? Ist denn Wahrheit nicht immer persönlich, und hat denn nicht jeder seine eigene? Sicher, doch es gibt auch die Wahrheit des Lebens und die Wahrheit des Todes – und diese sind uns allen gemein, und genauso ist uns allen gegeben, Lügen oder eine gute Schreinerarbeit zu erkennen (meistens), wenn wir denn damit zu tun haben.
Heisst das denn nun, dass digitale Kameras für die dokumentarische Fotografie abzulehnen sind? Natürlich nicht; es wäre ja auch vollkommen realitätsfremd. Was heisst es dann? Dass immer entscheidender wird, wer die Kamera bedient – denn wenn die Technik das Verbessern und Verschönern, kurz: das Manipulieren, problemlos möglich macht, muss man sich fragen, ob das, was man sieht, auch wirklich das ist, was sich vor dem Kameraauge befunden hat.
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Die Fähigkeit, zu wählen, gehört zum Menschen – so können wir, zum Beispiel, entscheiden, ob wir einen Text als fiction oder als non-fiction einordnen wollen. Wir machen solche Unterscheidungen, weil wir (zumindest einige von uns) es hilfreich zu wissen finden, ob, was wir lesen, einzig der Fantasie des Autors entsprungen, oder ob es für die Geschichte eine Basis in der realen Welt gibt – übrigens: auch für jene, die der Meinung sind, Wirklichkeit sei nur das, was in unserem Kopf vorhanden, gilt das Gesetz der Schwerkraft: jedenfalls springen auch diese Leute nicht reihenweise von Wolkenkratzern.
So sinnvoll die Unterscheidung von fiction und non-fiction auch sein mag, häufig geschieht sie recht zufällig, und manchmal ist sie auch nur irreführend. Um ein Beispiel aus dem Feld der Reisereportage (die der dokumentarischen Fotografie nahe steht) zu nehmen: als Bruce Chatwin einmal gefragt wurde, was für ihn der Unterschied zwischen fiction und non-fiction sei, antwortete er, er glaube nicht, dass es da einen gebe. Salman Rushdie meinte dazu: es sei Chatwin vollkommen egal gewesen, ob seine Geschichten wahr, ihm sei es einzig darauf angekommen, dass sie gut gewesen seien. So einleuchtend ein solcher Standpunkt (literarisch gesehen) möglicherweise sein mag, physisches Reisen ist dafür nicht erforderlich.
Doch es gibt auch Reiseschriftsteller, die sich von gänzlich Anderem leiten lassen. Zum Beispiel V.S. Naipaul, dessen Maxime ist, die Wahrheit zu erzählen. Und wie macht man das? Indem man die Leute, die man trifft, sich gut anschaut und nichts als gegeben nimmt. Er fange mit einfachen Fragen an, sagte Naipaul in einem Gespräch mit dem Fotografen Raghubir Singh, und wenn man dann genau zuhöre, was die Leute zu sagen haben – er betont: genau zuhöre – könne man anfangen, zum menschlich Wesentlichen zu gelangen.
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Vor einigen Monaten, auf Arte, ein Porträt des Schweizer Magnum-Fotografen René Burri. Diese Art der Fotografie sei wohl bald vorbei, meinte Hans Magnus Enzensberger im Film bedauernd. Und in der Tat: der Fotoreporter, der die Welt bereist, um denen zu Hause von fremden Völkern und vergessenen Kriegen zu berichten (im Geiste einer humanitären Grundhaltung, wie sie für die Magnum-Kooperative typisch ist) scheint am Aussterben. Weil sich die Medienlandschaft gewandelt (heute bestimmt das Fernsehen und nicht mehr die Illustrierte das Bewusstsein) und damit kaum mehr Nachfrage (seitens der Medienmacher) nach solchen Bildern besteht.
Die Dokumentarfotografie wird trotzdem nicht verschwinden. Weil sie einer tiefen Sehnsucht, die in uns allen steckt, Ausdruck verleiht: dass der Augenblick Bedeutung haben möge.
Erstveröffentlichung auf www.morgenwelt.de am 17.3.2005,
da jedoch nicht mehr abbrufbar
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"Warum trägt das Mädchen keine Kleider?"
Das Bild des kleinen, nackten, vietnamesischen Mädchens, das vor dem von den Amerikanern abgeworfenen Napalm davonrennt, ist weltbekannt geworden – und hat vermutlich zu mehr Empörung über den Vietnamkrieg geführt als zahllose flammende Aufrufe. Das Bild hat meine jugendlichen Empfindungen mitgeprägt – es steht für Trauer, Hilflosigkeit, ohnmächtige Wut und Mitleid. Auch um diese Gefühle nicht zu vergessen, habe ich das Foto aus einem Magazin ausgeschnitten, unter Glas gestellt und eingerahmt.
‘Warum trägt das Mädchen keine Kleider’, fragt Yonalkis. Ich bin verblüfft, weiss keine Antwort, kann nur raten. Hat das Napalm ihr die Kleider am Leib versengt? Doch wenn ja, warum nicht den andern Menschen auf dem Bild? Ihrem Bruder, zum Beispiel? Ist der schreiende Junge überhaupt ihr Bruder?
Was weiss ich überhaupt von diesem Bild, das mich jetzt schon ein halbes Leben begleitet? Ausser den Emotionen, die ich damit verbinde, kaum etwas. Ich beginne nachzuforschen. Das Foto stammt von Nick Ut, einem AP-Fotografen, der sie auf der Strasse nach Tay Ninh, im Süden Vietnams, nahe der kambodschanischen Grenze, aufgenommen und dafür den Pullitzer-Preis gekriegt hat. Die Kleider sind dem Mädchen, das übrigens Kim Phuc heisst, tatsächlich am Körper versengt worden. Doch weshalb hat das Napalm nur die Kleider von Kim Phuc angegriffen, warum nicht die der anderen Menschen auf dem Bild?
Die Foto wurde 1972 aufgenommen und Nick Ut hat das kleine Mädchen anschliessend ins Spital gebracht, wo schnelle Behandlung ihr das Leben rettete. Dies ist gut zu wissen, nicht zuletzt, weil man sich häufig fragt, wie es möglich ist, dass jemand in einer solchen Situation fotografiert anstatt zu helfen. Kim Phuc – 75 Prozent ihres Körpers erlitten Verbrennungen dritten Grades – ist heute als unbezahlte Goodwill-Botschafterin für Unesco tätig.
Soweit, so gut, doch die Frage, weshalb das Napalm nur die Kleider von Kim versengte, ist damit immer noch nicht beantwortet. Das Bild selber gibt darauf keine Antwort, denn Bilder können nur bestätigen, was wir eh schon wissen. Andrerseits können sie uns aber auch neugierig machen, uns zu Fragen veranlassen – es ist die Beantwortung von solchen, von Fotos hervorgerufenen, Fragen, die uns Bilder erst verständlich machen. Anders gesagt: Je weniger ich von einem Bild weiss, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass ich darin nur meine Vorurteile wiederfinde.
Meist sehen wir in Fotos, was wir in ihnen sehen wollen. Im Falle von Elian Gonzalez, dem kubanischen Jungen, der vor der Küste vor Florida von einem Fischer aufgegriffen wurde, gab es zwei Bilder, die Schlagzeilen machten: das eine zeigte Vater und Sohn vereint in die Kamera strahlend, das andere einen Agenten der Einwanderungsbehörde mit Helm und Schutzbrille, dessen Gewehr in Richtung des erschreckten Jungen im Schrank zielt. Die beiden Aufnahmen sind sofort zu Symbolen gänzlich unterschiedlicher Interpretationen geworden – ein brutaler, militärischer Angriff einerseits oder eine längst überfällige Vater und Sohn-Zusammenführung andrerseits. Ausschlaggebend für die jeweilige Sichtweise, so schien es, waren die politischen Ueberzeugungen der verfeindeten Parteien. Die Tatsache, zum Beispiel, dass der Finger des Agenten gar nicht am Abzug war und dass sein Gewehr nach unten und zur Seite zeigte, wurde nur von den Verteidigern des Angriffs ins Feld geführt. Die Behauptung andrerseits, das Foto vom strahlenden Vater und Sohn sei manipuliert worden (Elian’s Haar sei in Wirklichkeit kürzer gewesen, wurde behauptet), wurde nur von den Miami-Verwandten vorgebracht.
Häufig führt genaues Hingucken zu mehr Fragen als Antworten. In Elians Fall: Wie kommt es, dass ein Fotograf zur Stelle war? Warum war der Fischer, der Elian gerettet hat, zu diesem Zeitpunkt überhaupt im Haus? Warum versteckte er sich mit dem Jungen im Schrank? Warum waren die Agenten dermassen schwer bewaffnet? Gab es keinen andern Weg um den Jungen aus dem Haus zu schaffen?
Natürlich hat ein Bild nicht nur eine einzige Bedeutung – der kulturelle Zusammenhang, der soziale und persönliche Hintergrund des Betrachters spielen dabei wichtige Rollen – doch ist genaues Hinsehen nach wie vor ein entscheidendes Kriterium zum Verständnis von Fotos, genauso wie die sich aus solchem Hinschauen ergebenden Fragen. Und auch wenn die Antworten möglicherweise nicht voll befriedigen vermögen – die Fragen werden unser Sehen verändern. Ich zumindest werde das Foto von Kim Phuc nicht mehr ohne ‘Warum trägt das Mädchen keine Kleider?’ mir ansehen können.
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