StartseiteEnglishDeutschSite Map

Deutsch:

Hans Durrer

Coaching & Beratung

Vorträge & Seminare

Publikationen

Über Fotografie

Von den Medien

Von fremden Ländern

Über Dies und Das

Allgemein:

Startseite

Contact

Disclaimer

» Südafrikas Küste
» Die rote Babuschka
» Im Westen Finnlands
» Momente in Valparaíso
» Über Bangkok, Thailand
» Kuba und die Axis of Evil
» Georg Gersters Weltbilder
» China ist nicht ganz anders
» Brasilianische Begegnungen
» Als Fremder in einem fremden Land
» Als Illegaler auf dem Weg nach Europa
» In Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile

Südafrikas Küste

Man kann Fotobücher auf ganz verschiedene Arten angehen. Man kann, zum Beispiel, mit dem Vorwort anfangen, oder man kann das Buch einfach irgendwo öffnen, blättern, und sich dann den Bildern überlassen, oder man kann sich von den Kapitelüberschriften leiten lassen, oder …. Wer Letzteres tut und mit Kwazulu-Natal beginnt, weil er (Frauen sind mitgemeint) schon mal vor Ort war, wird sich vielleicht wundern, dass er „sein Kwazuku-Natal“ nur selten wieder findet, wenn er sich dann aber ganz einfach diesen eindrücklichen Aufnahmen von Jörn Vanhöfen, die mehr an Gemälde als an Fotografien erinnern, überlässt, wird er eine ganz wunderbare Horizonterweiterung erfahren, in Herz und Hirn.

Es ist ein sehr schön gestalteter, ja edler und eleganter Band, den der Mare Verlag hier vorlegt: Aufnahmen, Bildqualität, Layout, der differenzierte, kluge, und informative Text von Zora del Buono, alles stimmt, nur das Vorwort des Herausgebers fällt etwas ab. Zugegeben, man erfährt Interessantes (etwa, dass es seine Idee war „Eine Reise entlang den Küsten Südafrikas – 2500 Kilometer Wüste, Felsen, Städte und Urwälder am Meer“ ins Bild zu setzen), doch Sätze wie „Besonders Kapstadt und die Badestrände ziehen jedes Jahr Hunderttausende an. Aber die hohe Kriminalität und die himmelschreienden Unterschiede zwischen schwarzer und weisser Bevölkerung begleiten die grandiosen Kulissen“ sind dann doch etwas arg platt: es gibt mittlerweile nämlich auch sehr reiche Schwarze und recht arme Weisse (die gab es übrigens immer schon in diesem Land, verhältnismässig wenige, sicher, aber trotzdem). Zora del Buonos Text ist da näher an der Realität: „Seit 1707 nennen sie sich selbst Afrikaaner, ihre Sprache, das Afrikaans, ist eine Art ältliches Niederländisch, kehlig und dunkel. Was einst die Sprache der Mächtigen war, ist heute auch die Sprache der Abhängigen, die sich aus ihrer wirtschaftlichen Bedrängnis herauszulösen bemühen, ein Versuch, der oft auf Widerstand stösst, aber immer häufiger auch glückt.“

In einem Interview mit Spiegel Online erläuterte Jörn Vanhöfen sein fotografisches Selbstverständnis wie folgt:
Spiegel Online: In Ihrem Bildband "Südafrikas Küsten" ist nicht das Südafrika der sattsam bekannten Klischees, sondern stille Landschaften und öde Städte zu sehen.
Vanhöfen: Ich bin ein politischer Landschaftsfotograf, und mein Verleger Nikolaus Gelpke wollte das politische, kulturelle, gesellschaftliche Leben nach der Apartheid zeigen. Er wusste, dass ich immer versuche, mehrdeutige Bilder zu schaffen. Ich will den Betrachter damit zwingen, die Bilder nicht nur zu konsumieren, sondern wirklich zu lesen.

Sind denn Bilder nicht sowieso mehrdeutig? fragt man sich da, eingedenk des russischen Sprichworts „Er lügt wie eine Augenzeuge“ unwillkürlich. Zudem: was der Fotograf will, ist das Eine, ob jedoch die Bilder dann auch tun, was er will, dass sie tun sollen, ist hingegen … na ja, wer will das schon wissen?

Wer den Band einige Male durchgeht und den Versuch macht, die Bilder, wie das der Fotograf will, wirklich zu lesen (und dies meint: genau hingucken, was das Bild zeigt; sich überlegen, was man ins Bild hineinliest; das Bild zu spüren versuchen etc), der wird zweifellos emotional bereichert werden. Und er wird weiter denken, und weiter empfinden, über diese inspirierenden Fotos hinaus. Ob der Band es jedoch schafft, „das politische, kulturelle, gesellschaftliche Leben nach der Apartheid“ zu zeigen, ist schwer zu sagen – können Fotos das überhaupt? Gehört es denn nicht zum Wesen der Fotografie, dass sie Abstraktes (Politisches, Kulturelles, Gesellschaftliches) gar nicht abbilden (höchstens zuschreiben) kann? Zudem: Was soll das eigentlich sein, politische Landschaftsfotografie, ausser einer weiteren, für den Betrachter wenig hilfreichen Abgrenzung? Möge uns die politische Weltraumfotografie erspart bleiben!

Jörn Vanhöfen
Südafrikas Küste
Mare, Hamburg 2008

Erstveröffentlichung auf http://rezensionen.ch, Februar 2009
_______

Die rote Babuschka

Die Rahmenhandlung dieses wirklich witzigen Buches findet sich auf der vierten Umschlagseite gut zusammengefasst. Hier ist sie:

„Zehn Jahre nach dem Sturz der Ceausescu-Diktatur stehen Neuwahlen an. Die Rentnerin Emilia Apostoae, die den grössten Teil ihres Lebens unter dem Regime der „Volksmacht“ verbracht hat, erhält einen nach Anruf von ihrer nach Kanada emigrierten Tochter Alice: ‚Wähle ja nicht die Kommunisten.’ Dieses Telefonat und die folgenden Diskussionen stürzen Emilia in eine Identitäts- und Nostalgiekrise und sie erinnert sich wehmütig an eine Zeit, in der alles perfekt schien (aber gar nichts stimmte). Nach und nach verwebt die ‚rote Babuschka’ den problematischen Alltag des heutigen Rumänien mit dem Alltag der Vergangenheit und geht sich dabei selbst auf den Leim.“

Die Gedanken und Überlegungen, die sich Emilia Apostoae so macht, liessen mich immer mal wieder laut herauslachen. Als Tochter Alice und der Schwiegersohn in spe, Alain, zu Besuch nach Rumänien kommen, kommentiert sie etwa: „Er hatte Discoklamotten an – Jeans, ein T-Shirt und Laufschuhe. Ich habe ja keine Ahnung, wie man es so in Kanada hält, aber wenn man sich bei uns schick macht, weil man um die Hand eines Mädchens anhalten möchte, dann zieht man sich ganz anders an. Hatte er denn nichts Besseres im Schrank? Tucu schwitze sich halbtot in seinem Nadelstreifenanzug, und mit verging in dem viel zu eng sitzenden Tupfenkleid Hören und Sehen. Nun, wer schön sein will, muss eben leiden.“ Beim anschliessenden Essen wundert sie sich, dass Alain nur „einen Salat und zwei mickrige Stücke Fisch mit einer Zitronenscheibe bestellt“ und schliesst, dass ein Leben lang „ewig auf Diät, immer am Hungertuch nagen“ ziemlich unnatürliche Folgen habe müsse: „Deswegen werden sie alle neunzig, und ihre Kinder warten im Rentenalter noch auf das Erbe.“ Am selben Abend dann, vor dem Einschlafen der Schweigereltern in spe, liest man diesen ganz wunderbaren Dialog:

„Hör mal, weißt Du, woran ich eben dachte?“
„Mm?“
„Dieser Junge, Alin …“
„Alain!“
„Für mich ist er Alin, lass mich in Ruhe!“
„Was ist denn mit ihm?“
„Wenn der eine Schubkarre voll Beton schieben müsste, würde er nach zehn Metern tot umfallen.“
„Und?“
„Ich mein’ ja nur.“
„Wozu soll er denn Beton durch die Gegend schieben, er arbeitet doch bei einer Bank.“
„Tia, da hast du auch wieder recht.“
Danach sind wir beide eingeschlafen.

Was diesen Roman lesenswert macht, sind die Schilderungen davon, was für Vorstellungen sich Emilia Apostoae von der Welt macht. Ganz wunderbar ist zum Beispiel diese hier: „Alice und Alain haben uns Hochzeitsfotos geschickt. Kaum zu glauben, dass die in Kanada aufgenommen worden sind: Stühle wie bei uns, Tische wie bei uns, Menschen mit zwei Armen und zwei Beinen. Erst durch die toten Fische auf den Tellern wird einem klar, dass es hier um keine hundertprozentig rumänische Hochzeit geht.“ Wer jetzt wissen will, was denn eine hundertprozentig rumänische Hochzeit sein könnte, wird um den Gang zur nächsten Buchhandlung nicht herum kommen.

Lesenswert macht diesen Roman aber auch die Beschreibungen des Lebens im Rumänien unter Ceausescu – die sind in der Tat, wie der Verlag schreibt, amüsant und schräg.

„Erstens: In Rumänien hat jeder Arbeit. Zweitens: Obwohl jeder Arbeit hat, arbeitet keiner. Drittens: Obwohl keiner arbeitet, wird der Plan zu hundert Prozent erfüllt. Viertens: Obgleich der Plan zu hundert Prozent erfüllt wird, sind die Läden leer. Fünftens: Obwohl die Läden leer sind, können sich alle satt essen. Sechstens: Obwohl sich alle satt essen können, ist keiner zufrieden. Siebtens: Obwohl keiner zufrieden ist, spenden alle Applaus.“

Was aber diesen Roman ganz besonders lesenswert macht, sind Schilderungen wie diese: „Catrina war auf Tucu gar nicht gut zu sprechen. Sie meinte, der elterliche Hof sei in einem chaotischen Zustand, seitdem er dort erschienen war. Weder würde er säen, noch den Garten bewässern. Unkraut jäten oder zur richtigen Zeit ernten. Er tat so, als hätte er alles im Griff, baute aber rund um die Uhr nur Mist. Die Hälfte der Hühner hatte das Zeitliche gesegnet und die übriggebliebenen musste man auf den Knien anflehen, ein Ei zu legen. Im Sommer hatte er die Tomatensträucher nicht zurückgeschnitten, sodass sie in den Himmel wuchsen, die Früchte jedoch so klein wie Kirschen waren. Die Mohrrüben waren zu dicht aneinander gepflanzt und mickrig. Das Unkraut stand so hoch wie der Mais. Die Pflaumenbäume wimmelten vor Raupen. Die Äpfel waren kaum grösser als Walnüsse.
‚Er spielt den erfahrenen Bauer, und das ganze Dorf lacht ihn aus!“, sagte sie.
Mit anderen Worten: Ich hatte goldrichtig gelegen, als ich ihn mir in der Jugend ausgesucht hatte.“

Das ist wunderbar knapp geschildert, hat einen überzeugenden Rhythmus, ist witzig und überrascht. Mit andern Worten: die Lektüre lohnt.

Dan Lungu
Die rote Babuschka
Residenz Verlag 2009
Übersetzt von Jan Cornelius
_______

Im Westen Finnlands

Ende Januar, Anfang Februar 2009 verbrachte ich zwei Wochen im Westen Finnlands. Ich führte an der Fachhochschule in Nykarleby, das liegt eine Autostunde nördlich von Vaasa, einen Kurs zum Thema „Thinking Photography“ durch. Ich war noch nie in dieser Weltgegend, hatte mich auch vorgängig nicht wirklich darüber informiert, wo ich da hinkommen würde, nur über das Wetter hatte ich mich kundig gemacht, wusste also, dass es da kalt sein würde und so traf ich, mit einigen Pullovern im Gepäck, vor Ort ein, merkte dann aber sehr schnell, dass Pullover, Handschuhe und Mütze nicht wirklich nötig gewesen wären, denn ich verbrachte den grössten Teil meiner Zeit ohnehin drinnen und dort war es nicht nur warm, sondern heiss. Jedenfalls in meinem Zimmer, wo es eindeutig wärmer war als im südbrasilianischen Winter. In Brasilien sind nämlich Zentralheizungen unbekannt, in Finnland hingegen findet man sie meist voll aufgedreht. Im Kühlschrank fand ich dann einen Orangensaft gegen meinen Durst, er hiess „Brasil“.

In diesem Teil Finnlands spricht man hauptsächlich Schwedisch (93%, wurde mir gesagt), fühlt sich aber deswegen nicht weniger Finnisch; die Strassen sind in beiden Sprachen angeschrieben. Ob es da keine kulturellen Reibereien gebe? fragte ich die Schulsekretärin. Nicht bei denen, die beide Sprachen sprechen, antwortete sie.

Viel Tageslicht hat es nicht gerade; die Sonne geht so gegen neun Uhr auf und um vier Uhr wieder unter. Da habe man mehr Zeit, sich die Sterne anzugucken, emailte mir Elsa aus dem südlichen Brasilien. Der Gedanke gefiel mir und so ging ich raus und starrte zum Himmel hoch, doch Sterne waren da keine zu sehen, der Himmel war die ganze Zeit über bedeckt.

Was das Besondere hier in Westfinnland sei, fragte ich die Studentinnen (es gab auch Studenten, doch die Mehrzahl war weiblichen Geschlechts und stammte aus Finnland, Schweden und Norwegen). Die Stille, sagte einer. Von da ab achtete ich auf die Stille und fand sie magisch. Viele halten sie nicht aus, hörte ich später jemanden sagen.

Ich unterrichte, weil ich etwas lernen will. Und ich lernte viel in diesen zwei Wochen in Nykarleby. Ein Beispiel: Fotos scheinen ein Eigenleben zu haben, ja gleichsam über magische Kräfte zu verfügen, sagte ich, wer das nicht glaube, solle doch mal versuchen, ein Foto der eigenen Mutter zu nehmen und ihr die Augen rauszuschneiden. Ich fand dies ein Hammer-Beispiel (ich verdanke es W. J. Mitchell) und konnte mir nicht vorstellen, dass da jemand dagegen reden würde, doch ich hatte mich getäuscht. Eine der Studentinnen meinte, das sei überhaupt kein Problem, sie habe das gerade gemacht. Es sei ja mittlerweile bekannt, dass sie zurzeit nicht gerade ein glückliches Verhältnis zu ihren Eltern habe. Dem gebe sie dadurch Ausdruck, dass sie Fotos von ihnen zerschneide und Collagen draus mache.

Das Meer zwischen Finnland und Schweden sei auf dieser Höhe etwa 100 Kilometer breit, erfuhr ich. Und es ist zurzeit vereist. Lisen, eine Studentin, zeigte mir den Hafen. Als wir ankommen, geht gerade die Sonne unter – ein feuerroter Ball verschwindet im Schnee. Dass Lisen noch mehr beeindruckt ist als ich, macht mir klar, dass ich es mit einem nicht alltäglichen Ereignis zu tun habe. Wenig alltäglich – für mich jedenfalls – ist auch die Tatsache, dass da plötzlich ein Auto auftaucht und übers Eis in Richtung der nahe liegenden Inseln fährt. Die Winter seien ja auch nicht mehr, was sie einmal waren, sagt Lisen, doch früher seien einige mit dem Auto übers Eis nach Schweden hinüber gefahren.

Mein stärkstes Finnland-Bild ist jedoch ein gänzlich unspektakuläres: da mein Flug von Vaasa nach Helsinki frühmorgens geht, bringt mich Emma, die Dozentin, die meinen Aufenthalt organisiert hat, bereits am Vorabend nach Vaasa, wo ich in einem sehr schönen Hotel untergebracht werde. Der Blick aus dem Fenster morgens um fünf zeigt eine tief verschneite, von Strassenlampen erleuchtete, fast lautlose Stadt – es ist wie im Märchen, und es ist magisch. Und es ist dieses Bild, das ich heute hauptsächlich mit Finnland verbinde.
_______

Momente in Valparaíso

Geneviève aus Lausanne fuhr eines Tages, mit Büchern im Gepäck, für ein Wochenende nach Paris, mietete ein Zimmer in einem Hotel, machte es sich bequem und begann zu lesen. Nur zum Essen verliess sie ihr Zimmer. Der ultimative Luxus, meinte sie: in einer fremden Stadt nichts anderes zu tun als was man gerne tut.

Immer mal wieder habe ich mich im Laufe der Jahre an diese Geschichte erinnert. Und gedacht: das möchte ich auch einmal machen. Und jetzt mach ich es. Auf meine Art. In Valparaíso, auf dem Cerro Playa Ancha, habe ich mir im chilenischen Sommer für einen Monat eine günstige Cabaña gemietet. In dieser Zeit will ich durch die Stadt flanieren, an die nahegelegenen Strände (Portales, Viña, Reñaca) gehen, lesen, fernsehen, im Internet surfen und aufnotieren, was ich empfinde, mir durch den Kopf geht, mich umtreibt. Nicht alles, denn mir ist es nicht um Selbstentblössung zu tun, sondern um Bewusstwerdung. Und diese, so meine Erfahrung, wird gefördert, wenn man aufschreibt, was sich in Kopf und Herz abspielt.

Der Blick durchs Fenster meiner Cabaña geht auf den Hafen und die gegenüberliegenden Hügel: in den ersten Tagen ist es mir oft passiert, dass ich rausgeschaut und, einen Moment nur, innerlich gejubelt habe – so genial schön ist diese Aussicht, so beglückt fühle ich mich, dass ich jetzt hier sein darf.

Wenn es das Wetter erlaubt (meist bläst der Wind jedoch zu stark – früher sei er noch viel stärker gewesen auf diesem Hügel, doch mit der weltweiten Klimaveränderung sei er erträglicher geworden, sagt die Coiffeuse in der Avenida Playa Ancha), setze ich mich kurze Zeit auf die Terrasse.

Erst nach Tagen fällt mir auf, dass am gegenüberliegenden Hang, ein Loch klafft, wo früher einmal ein Haus sich befunden haben muss. Reste davon sind zu sehen. Und plötzlich sehe ich, allüberall in der Stadt, unbewohnte Häuser, von denen oft nur noch die Fassaden stehen. Patrimonio de la Humanidad nennt man das. Es erinnert mich an Havanna.

Am Morgen des 5. Februar sagt ein Däne beim Frühstück, wir seien ja heute recht unsanft geweckt worden. Ob ich denn die Explosion ganz in der Nähe nicht gehört habe? kommentiert er meinen fragenden Blick.

Nein, ich hatte nichts gehört, ich war gerade unter der Dusche.

Als ich kurze Zeit später den Hügel runter zum Hafen gehe, sehe ich, nicht weit von da, wo ich hin will, starken Rauch aufsteigen. Ich frage einen Passanten, der runterguckt, was geschehen sei. Eine Gasexplosion, vier Häuser zerstört, die Zahl der Opfer und Verletzten unbekannt.

Von bis zu 20 Opfern kann man im Fernsehen hören, im El Mercurio de Valparaiso ist zuerst von 11, dann von 3, schlussendlich, am 23. Februar, von 2 Toten die Rede.

Das am häufigsten gebrauchte Wort im Spanischen beziehungsweise der am häufigsten gebraucht Ausdruck ist „claro“. Jemanden wie mich, dem es gelegentlich vorkommt, als ob er nur aus Fragen bestünde, macht dies staunen, und wirft natürlich wieder neue Fragen auf.

Heute, am 16. Februar stürmt es, seit Stunden schon, gegen Mittag nimmt der Regen ab, der Himmel und somit der Ausblick auf die gegenüberliegenden Hügel und die Bucht bleibt grau in grau, gegen Abend klart es auf. So aussergewöhnlich scheint solch heftiger Regen zu dieser Jahreszeit, dass Fernsehen und Zeitungen ausgiebig darüber berichten. „Inusual mal tiempo en pleno verano provoca daños y molestias propios del invierno” titelt El Mercurio.

Nach wenigen Tagen überkommt mich Unruhe: ich sollte was tun, nicht faulenzen, vor allem, ich muss meinem Tun eine Richtung gebe und brauche Disziplin, und diese ganz unbedingt, denn ohne sie ist nichts. War mir das Leben eigentlich je mal was anderes als hoffen, es würde bald anders werden? Ja, doch, in Momenten.

Vor Jahren, in Lausanne, fiel mir ein lange zurückliegendes Tagebuch in die Hände. Mit nicht geringem Erstaunen und einigem Befremden stellte ich damals fest, dass meine Lebensfragen sich über all die Zeit hinweg gleich geblieben waren. Sie sind es immer noch: Morgen (doch idealerweise an einem Montag) werde ich ein neues Leben anfangen, ab dann werde ich alles so diszipliniert und perfekt machen, wie es mir schon immer vorschwebte. Ich weiss, ich weiss, das ist lächerlich, doch alle meine diesbezüglichen Einsichten haben bis jetzt nichts daran geändert, dass ich nach wie vor so empfinde. Um es mit Balzac zu sagen: „Der Siebzigjährige sehnte den Augenblick herbei, da er leben könne, wie es ihm behagte“ (Verlorene Illusionen). Geändert hat sich einzig, dass ich heute das Fehlschlagen meiner guten Vorsätze nicht mehr so tragisch finden mag. In den Worten von Borges: „Cuando era joven, la intolerancia era una de mis virtudes basicas; debía de ser insoportable. Además, mi gran timidez me llevaba a mostrame orgulloso, depreciativo y aspero. No es que ahora sea mucho mejor, pero he aprendido a ser cortés, o mejor dicho, ahora me son indiferentes muchas cosas que antes no lo eran.” Zudem finde ich hilfreich, was in den “Los Doce Pasos” gelesen habe: “Aunque nuestra obstinación nos cierre la puerta como succede a menudo, siempre podremos volver a abrirla con la llave de nuestra buena voluntad.”

Wo kommen wir her, was tun wir hier, wo gehen wir hin? Das beschäftigt wohl uns alle, manche etwas intensiver, und mich – nicht zuletzt, weil ich über viel freie Zeit verfüge – ganz besonders intensiv. Die Urangst, vor dem Leben wie vor dem Sterben, die mich, so scheint mir, schon mein ganzes Leben begleitet, hat im Laufe der Jahre nicht abgenommen, doch gab und gibt es Phasen, in denen sie weniger präsent ist. Was hilft gegen die Angst? Mich daran zu erinnern, was mir schon als Jugendlicher Trost spendete: die Ideenwelt der Indianer. Genauer: die Teile davon, die ich damals intuitiv begriffen habe – dass ein Baum, wenn man eine Kerbe in seinen Stamm schnitzt, weint; dass die sogenannte unbelebte Welt lebt; und dass man einmal in die ewigen Jagdgründe (was für ein schönes Bild) eingehen wird.

In diesem Jahr fällt der Aschermittwoch auf den 21. Februar: „Gedenke Mensch, dass du aus Staub bist, und zum Staub wirst du zurückkehren.“ (Gen 3,19).

Über Bangkok, Thailand

Bangkok, das weiss jeder, steht für käuflichen Sex. Und für Shopping. Und vielleicht noch ein paar Tempel. Dabei ist die thailändische Hauptstadt schon faszinierend, wenn man einfach nur schaut, was sich vor der eigenen Nase abspielt.

Von meinem Liegestuhl am Schwimmbecken des Golden Palace sehe ich eine grossgewachsene, schlanke, hellhäutige Thailänderin mit ebenmässigen Gesichtszügen auf den Hoteleingang zu gehen. Die junge Frau trägt Jeans, eine weisse Bluse und eine grosse Sonnenbrille; sie ist so schön, dass es mir fast den Atem nimmt. Minuten später sehe ich sie mit ihrem Freier, einem wesentlich älteren, sportlichen, gutaussehenden Mann mit kurzem, grauen Haar das Hotel verlassen. Er freut sich, lacht, sie lächelt. “Have money, have feeling”, heisst das in der Stadt der Engel.

Das Golden Palace, ein in die Jahre gekommener, von Chinesen betriebener Bau, dessen Gäste dieses Jahr fast ausnahmslos tätowiert sind, liegt ganz in der Nähe des Nana Plaza, wo sich GoGo-Schuppen an GoGo-Schuppen reiht. Und die Soi Cowboy ist nicht weit, wo auch wieder ein GoGo-Schuppen neben dem andern steht. Und dann gibt’s da noch die Clinton Plaza, und den Biergarten in der Soi 7 und die Bamboo Bar in der Soi 3 und und und, man kann da leicht den Überblick verlieren, weil in Bangkok alles in ständiger Veränderung begriffen ist, getreu der buddhistischen Weisheit, gemäss der die einzige Konstante der Wandel ist.

Adrian stammt aus Bristol und lebt seit fünfzehn Jahren hier. Er ist um die fünfzig, gross, schlank und durchtrainiert, schliesslich hat er Jahre lang sein Geld als Fitnesstrainer in den grossen Hotels verdient. Er habe sich gestern in eine der Bars am Eingang zum Nana Plaza gesetzt und sich die Leute betrachtet und da sei ein Typ reingewatschelt, mit gespreizten Füssen wie eine Ente, etwa zwei Zentner schwer, um die einssechzig, einsfünfundsechzig gross, mit einem Hals, der eigentlich gar keiner gewesen sei, weil da zwischen Rumpf und Kopf gar kein Übergang war, neben sich eine vielleicht Siebzehnjährige, klein und dünn. Also er habe ja viel Fantasie, sagt Adrian, doch wie das bei denen beiden gehen solle, dazu reiche sie dann doch nicht aus.
Wir sitzen in einem der Internet-Cafes auf der Sukhumvit, wo ich gerade Callums Begeisterung für alles thailändisch Weibliche mit dem Hinweis zu korrigieren versuche, dass viele gar keine Weibchen seien, weswegen auch die Veranstalter von Schönheitskonkurrenzen vor einigen Jahren sich veranlasst gesehen hätten, die einschlägigen Reglemente dahingehend zu ändern, dass künftige Teilnehmerinnen “female from birth” zu sein, da allzu oft “Ladyboys” das Rennen gemacht hätten. Ach komm, das merkt man doch, ob da eine Mann oder Frau ist, lacht Callum, ein guterhaltener Fünfzigjähriger aus Neuseeland, vor kurzem geschieden, als Adrian sich einschaltet und meint, da könnte er sich täuschen. Er selber, fügt er mit für einen Engländer ungewöhnlicher Offenheit hinzu, stehe ja auf “Ladyboys”. Ah ja, tönen Callum und ich unisono. Ja, ja, die BBC habe sogar einmal ein Porträt über ihn gebracht. Ob denn die “Ladyboys” noch alle ihre Glieder…? In der Regel schon. Ob er dann früher auf Männer …? Nein, nein, er sei immer auf Frauen gestanden, im Übrigen sehe er die “Ladyboys” als Frauen.

Ich trete auf die Strasse und bin mittendrin im Leben. Vor allem mittags, wenn die Angestellten der umliegenden Banken zum Essen ausschwärmen und vor Ständen mit Wassermelonen, Ananas und Papaya oder an Klapptischen, wo Reisgerichte, Nudeln und Suppen gereicht werden, sich einfinden. Daneben dann Verkaufsstände wo Uhren, Unterhosen, Messer, T-Shirts, Hemden, Hosen, Socken und was das Käuferherz sonst noch alles begehrt, feilgeboten werden. Geschäftig und unaufgeregt. Es wird geschnattert und gescherzt und man kommt ohne die einem aus dem Westen so vertraute Hektik aus. Das liegt am thailändischen Naturell, dem das Wichtigste “Sanug”, also Spass und Freude, ist. Und es liegt auch an der Hitze, welche Gelassenheit verlangt und die thailändischen Hunde, die, alle Viere von sich gestreckt, Schnauze vorgeschoben, flach auf den Trottoirs liegen, wohl weltweit zu den schlaffsten Exemplaren ihrer Gattung macht.

Ein paar Schritte weiter und ich bin in Afrika, Der Abschnitt beginnt mit arabischen Restaurants, gefolgt von Läden meist hochgewachsener Schwarzer, die auf riesigen Stoffballen sitzen oder in Sesseln vor monumentalen Schuhhaufen sich lümmeln. Grosshandel, Export und alles sehr bunt, nicht zuletzt der farbenprächtigen afrikanischen Gewänder wegen. Hier kann man auch günstig telefonieren, man muss sich dabei allerdings das hörerfreie Ohr zuhalten, weil die Afrikaner offenbar davon ausgehen, dass die nicht unbeträchtliche Distanz zwischen Bangkok und ihren jeweiligen Heimatländern am besten mit Schreien und Brüllen zu überwinden ist.
Anfang Juli macht sich der Leitartikler der Bangkok Post für ein thailändisch-nigerianisches Abkommen über den Austausch von Gefangenen stark. Die Nigerianer bilden mit über 300 Insassen das höchste ausländische Kontingent in thailändischen Gefängnissen. Wie schrieb doch Paul Thomas schon 1995 in seinem Krimi “Transfer”: “Die Anwesenheit so vieler Nigerianer in einem thailändischen Gefängnis hatte Ricketts überrascht. Mit unverholenem Stolz hatte Adeyemi ihn darüber informiert, dass die Nigerianer die besten und aktivsten Drogenschmuggler der Welt waren und dass ihnen dieser Status in einem aktuellen Bericht des US-Aussenministeriums über den internationalen Drogensschmuggel zuerkannt worden war.” Aktiv sind sie nach wie vor, vielleicht jedoch etwas weniger gut als sie selber glauben.

Noch ein paar Schritte weiter und ich bin im Foodland, einem Supermarkt, der auch ein sehr gutbesuchtes Theken-Restaurant führt, wo man für weniger als zwei Schweizer Franken einen exzellenten “fried rice” kriegt. Hier ist die Szene so Multikulti, dass es keinem in den Sinn käme, sie als solche zu bezeichnen. Weil das Nebeneinander der verschiedensten Nationalitäten, Rassen und Herkunftsorte das Normale und nicht das Exotische ist.
Neben mir sitzt heute ein breiter, schwerer, schwitzender, Amerikaner, Mitte fünfzig, der V.S. Naipaul liest, sich wundert, dass ein solcher Mann den Nobelpreis kriegt (er hält viel von Naipaul, jedoch wenig von den Leuten, die den Nobelpreis vergeben) und wissen will, ob ich sein Indien-Buch kenne. Ich habe es erst kürzlich in der Hand gehabt und teile seine Begeisterung. Gestern sass ich neben einem australischen Ingenieur, der einen Anruf von einem Nigerianer entgegennahm, der ihn von ganz legalen Geldgeschäften, bei denen es nur Gewinner gibt, überzeugen will; vorgestern neben zwei jungen englischen Touristen, die gerade erst angekommen sind, sich noch nicht an thailändisches Essen wagen und vorsichtshalber Hamburger bestellen, und vorvorgestern war ich gerade dabei, einen Löffel Reis in den Mund zu schieben, als ein Mann sich neben mich stellt, mein Wasserglas ergreift, auf ein Päckchen mit Pillen, das er in der andern Hand hält, zeigt, das Glas, mein Glas, zum Mund führt, Sorry sagt, die Pille mit Wasser runterschluckt, das Glas abstellt, nochmals Sorry sagt und davon geht. Ich tippe auf Araber. Weil er arabische Gesichtszüge hatte.

Jing arbeitet bei der Bangkok Bank. Wir kennen uns seit zwölf Jahren. Sie weiss, dass ich mich für Buddhismus interessiere. Ob ich am Sonntag zum Meditieren mitwolle? Ich will.
Ein paar Tage später führt sie mich zu einem mit Mauern umgebenen Tempel zwischen dem World Trade Center und dem Siam Square, an dem ich schon oft vorbeigekommen, jedoch nie hineingegangen bin – vielleicht haben mich die Mauern abgeschreckt. Das Areal ist überraschend weitläufig. In einer Stadt, in der rund um die Uhr neue Häuser hochgezogen werden, habe ich soviel freien Raum nicht erwartet.
Jing geht schnurstracks auf einen kleinen, air-conditioned Supermarkt zu, wo wir uns Getränke besorgen und führt mich dann zu Tischen und Bänken, wo Leute mit Essen beschäftigt sind. Hier kochen regelmässig Freiwillige für die Tempelbesucher, sagt Jing. Das Essen ist gratis. Und hier, wir steigen die paar Treppen zur Mediationshalle hoch, als Jing auf die leere Fläche unter der Halle zeigt, wo Mappen und Decken liegen, hier können Menschen, die keinen Schlafensplatz haben, Unterkunft für die Nacht finden.

Bei einem Cappuccino und zurückgelehnt in einen bequemen Sessel in einem der in letzter Zeit immer zahlreicher gewordenen Internet-Cafes, lasse ich das Bangkoker Trottoirleben an meinen Augen vorbeiziehen Die vielen jungen und meist hübschen Mädchen, die mit ihren altersmässig häufig recht fortgeschrittenen Freiern, von denen die wenigsten eine Schönheitskonkurrenz gewinnen würden, unterwegs sind, fallen in diesem Teil der Stadt kaum auf. Doch die Kombinationen sind manchmal umwerfend. Sie im knallengen Mini, auf ersichtlich ungewohnten Stöckelschuhen, er in kurzen Hosen, Unterleibchen und Badeschlappen. Kommt dazu, dass sie knackiger kaum sein könnte, er hingegen, na ja, schwer zu sagen, auf jeden Fall nicht knackig.
Was mag sich wohl im Kopf dieses Mannes abspielen? Glaubt er ernsthaft, dieses junge, hübsche Mädel vom Land, das er wohl erst vor kurzem in einer Bar kennengelernt hat, hege romantische Gefühle für ihn, einen Mann mittleren Alters mit Bauch und beginnender Glatze? Ausgeschlossen ist das nicht, wahrscheinlich hingegen auch nicht. Wie andere Männer auch, wird er auf seine inneren Werte bauen.
Solange er von den Thais lernt, was die Thais die Welt lehren können – die Dinge nicht allzu ernst zu nehmen, Spass und Freude zu haben – wird er auch die nachher etwas schlankere Geldbörse zu verkraften wissen, denn gratis ist auch in Bangkok nichts. Oder eben, “have money, have feeling”, wie es hier so treffend heisst.
________

Kuba und die Axis of Evil

In seinem 1965 auf Englisch erschienenen Werk 'Propaganda: The Formation ofMen’s Attitudes’ weist Jacques Ellul darauf hin, dass Intellektuelle in ganz besonderem Masse für Propaganda anfällig seien, weil sie a) ständig große Mengen nicht nachprüfbarer Informationen zu sich nehmen, b) glauben, über alles und jedes eine Meinung haben zu müssen, und c) der Auffassung sind, sich eine eigene Meinung bilden zu können. Auch wenn ich mich nicht als Intellektuellen (ich stelle mir darunter gänzlich Lebensfremde vor) bezeichnen würde, Elluls Anfälligkeitskriterien für Propaganda erfülle ich ohne jeden Zweifel. Es kommt jedoch gelegentlich vor (selten genug, wie ich leider annehmen muss), dass ich merke, dass ich irregeführt werde. Hier zwei Beispiele.

Vor einigen Monaten hat die BBC die von den Redenschreibern von George W. Bush erfundene 'Axis of Evil’ für eine Serie mit dem Titel 'Holidays in the Axis of Evil’ genutzt. Im Januar 2004 habe ich mir die Berichte aus Nordkorea und Kuba angesehen.

Ich war noch nie in Nordkorea. Aus den Medien habe ich die Vorstellung, dass es ein Land bar jeder Freude ist, und die Leute dort kaum zu essen haben. Und dass dort ein organisierter Führerkult herrscht, man mit Oppositionellen nicht gerade zimperlich umgeht, und dass das Regime seine Fachleute beauftragt hat, nukleare Waffen herzustellen – und das Land deshalb von den Amerikanern (es soll betont werden: den im Norden des amerikanischen Kontinents ansässigen) wohl nicht angegriffen werden wird.

An diesem Bild hat auch der BBC-Bericht nichts geändert. Dazugelernt habe ich, dass es in Nordkorea Sandstrände gibt, und dass auch Westler, die glauben, über den Führer des Landes Witze machen zu können, schnell hinter Gitter landen.

Über Kuba hingegen habe ich nichts, rein gar nichts gelernt, was ich nicht schon wusste. Ich habe mir den Bericht zusammen mit meiner Frau, die aus Havanna stammt, angesehen. Als schon nach kurzer Zeit die Bar eingeblendet wurde, wo Hemingway seine Drinks zu sich zu nehmen pflegte, stöhnte sie ("siempre lo mismo") zum ersten Mal auf. Als dann verschiedene Interviews folgten und die Gesprächspartner immer entweder Schwarze oder Mulatten waren, hatte sie genug. Man könnte meinen, es gebe keine Weißen auf Kuba, ereiferte sie sich. Kein Wunder, guckten hier in der Schweiz alle immer ganz ungläubig, wenn sie ihnen sage, sie sei Kubanerin, wenn im Fernsehen nur immer Schwarze und Mulatten gezeigt würden.

"Der Ethnologe und Schriftsteller Fernando Ortiz ... schätzte in den vierziger Jahren, dass weit über die Hälfte der Gesamtbevölkerung 'negroid’ und Mulatten seien. Nach dem Sieg der Revolution wurde Kuba 'schwärzer’: Die Geburtenraten der Weißen sanken, und sie bilden die überwiegende Mehrheit der Emigranten" (Alfred Herzka: Kuba. Abschied vom Kommandanten?)

Als der Reporter einmal seine vom Staat bestellte Führerin fragte, ob junge Kubaner es vorzögen, auf den Zuckerrohrfeldern oder im Tourismus zu arbeiten?, antwortete diese: Auf den Zuckerrohrfeldern, und zwar aus Tradition. Da müsste der Mann doch stocken, vielleicht sogar nachfragen, schließlich muss man kein Kuba-Experte sein, um diese Antwort als reinstes Wunschdenken abzutun – Jobs im Tourismus gehören in Kuba zu den begehrtesten Jobs; des Verdienstes, der Trinkgelder, der gelegentlichen Hotelverpflegung, der Möglichkeit, Ausländer kennen zu lernen wegen. Der BBC-Reporter fragte nicht einmal nach.

Am 27. Juli 2004 schrieb Lisa Erdmann auf Spiegel Online unter dem Titel "Von der Revolution zur Prostitution", George W. Bush werfe der Regierung in Havanna vor, sie unterstütze den Sextourismus. Obwohl weder das Katholische Missionswerk Missio noch Amnesty International über Informationen verfügten, dass die kubanische Regierung die Prostitution aktiv unterstütze, gehe deren Vermutung gleichwohl dahin, "dass diese Form der Devisenbeschaffung geduldet wird und staatliche Stellen nichts dagegen unternehmen – manchmal allerdings etwas dafür: Vor fünf Jahren wurden mehrere leitende Mitarbeiter des kubanischen Tourismus-Ministeriums nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft entlassen, weil sie Sextourismus begünstigt haben sollen."

Die Logik dieser Argumentation drängt sich einem nicht gerade auf: würde die Regierung die Prostitution wirklich dulden, würde sie wohl kaum leitende Mitarbeiter des Tourismus-Ministeriums, die diese Devisenbeschaffung offenbar gefördert haben, entlassen. Wahr ist jedoch das Gegenteil, wahr ist, dass man in Havanna immer mal wieder zu hören kriegt (und in Havanna verlässt man sich darauf, was man zu hören kriegt), dass die Polizei wieder einmal Jagd macht auf ‚jineteras’, sie einfange und aufs Land zur Arbeit schicke.

Die eigentliche Härte ist jedoch der Schluss dieses Berichts, der im Wesentlichen besagt: Ob etwas wahr ist oder nicht, konstruieren lässt sich da allemal was. Im Original:

"Doch wie viel an Bushs Vorwurf der aktiven Förderung der Prostitution auch dran ist – pikant ist grade dieses Thema allemal. Schließlich hatten der von Washington protegierte Diktator Batista und die Mafia Kuba zum Bordell und Vergnügungsviertel der USA umfunktioniert. Das endete erst mit Castros Revolution 1959. Doch 45 Jahre später ist Kuba offenbar wieder da angekommen, wovon sich die Menschen auf der Insel einmal befreien wollten."

Ob diejenigen, die diese Revolution mitgetragen haben, das auch so sehen, ist einigermaßen fraglich. Und auch die ehemaligen Bordellbesitzer in Miami werden das wohl nicht ganz so sehen. Anders gesagt: Dieses Thema ist nicht pikant, es ist frei erfunden.

Erstveröffentlichung im Aurora-Magazin, Salzburg, August 2004
______

Georg Gersters Weltbilder

Es ist selten, dass man auf Bücher stösst, die nahezu perfekt sind. Georg Gersters „Weltbilder“ gehört dazu. Und warum nicht ganz perfekt? Weil es vollkommen unnötig ist, dieses Buch mit einer Rechtfertigung einzuleiten. Der Autor und Fotograf fühlt sich nämlich bemüssigt, sich gegen Kritiker („in die Jahre gekommene Achtundsechziger“, wie er schreibt), die meinen, seine Luftbilder seien ohne gesellschaftliche Relevanz, zu wehren. Nicht, dass er sich nicht wehren sollte, doch dieser tolle Band hat solche Rechtfertigungen nicht nötig, und zum Geleit schon gar nicht, denn jedem, der sich auf dieses Buch einlässt (es also nicht nur überfliegt, sondern Zeit damit verbringt), wird seine gesellschaftliche Relevanz (doch eben nicht nur diese) automatisch aufgehen. Doch so recht eigentlich ist das ein zu vernachlässigendes Detail, es wird vor allem erwähnt, um zu zeigen, dass der Rezensent sich beim Schauen und Lesen etwas gedacht hat.

70 Flugbilder aus den sechs Erdteilen sind in diesem schön gemachten Band versammelt. Beim ersten Durchsehen erinnerte ich mich an ein Gespräch mit einem Professor der Geologie im thailändischen Prachuap Khiri Khan. Er erzählte davon, dass Luftaufnahmen bewirkt hätten, dass die Geschichte Thailands teilweise neu hatte geschrieben werden müssen. Und wie das? Aus der Distanz hätte man erkennen können, dass, was man bisher für Strassen gehalten habe, in Wirklichkeit Wasserwege gewesen seien. Man könne eben aus der Distanz Muster erkennen, die einem aus der Nähe verborgen blieben.

Ganz wunderbare Muster hat Georg Gerster aus Mietflugzeugen und Ballons fotografiert (und damit geschaffen, denn Muster hängen ja vom Auge des Betrachters ab). Doch dieser Band zeigt nicht nur Muster, sondern ganz unterschiedliche Abbildungen, die von der inspirierenden Einrahmungskunst des Georg Gerster zeugen. Nehmen wir, zum Beispiel, die Aufnahme Nummer 32, die einen Hochspannungsmast und einen Ipé-Baum auf einem Acker bei Piracicaba im brasilianischen Staat São Paulo zeigt. Eindrückliche Farben, eine eigenwillige und ansprechende Komposition, denkt man, ist aber gleichzeitig froh, dass dem Bild ein erläuternder Text beigegeben ist, worin man erfährt, dass der gelbe Ipé viele Namen habe, doch dass keiner angemessener sei als Goldener Trompetenbaum (automatisch gehen die Augen zu dem leuchtend hellgelben, und in der Tat goldenen, Baum auf dem Bild), denn, „er schmettert die Lebenslust der brasileiros heraus.“ Das ist nicht nur trefflich gesagt, es ist wahr. Der Autor fährt fort: „Er ist der eigentliche Nationalbaum Brasiliens und wegen der Heilkraft seiner Rinde neuerdings auch im Blickfeld der industriellen Pharmazeutik. Er soll Krebspatienten das Überleben sichern. Umso pragmatischer mutet daher … das unschuldige Nebeneinander von Natur und Technik, von elektrischer Energie und Baum an. Unser aller Überleben mag ja sehr wohl davon abhängen, dass aus dem Nebeneinander nicht, wie bisher allzu häufig, ein verkrampftes und schuldhaftes Gegeneinander wird.“

Es sind nicht nur die zum Staunen einladenden Bilder, die diesen Band auszeichnen, es sind genauso die wohl formulierten, informativen, von vielerlei Einsichten zeugenden Texte, die viele der Bilder erst verständlich machen. Nehmen wir die Aufnahme Nummer 10, die, wie die Legende sagt, ein Industriedach im japanischen Yokohama zeigt. Ein Industriedach? Man stutzt, hat man doch eher den Eindruck, es handle sich um die Fassade eines Hochhauses, doch der Text lässt uns wissen, dass wir uns täuschen. Oder nehmen wir die Aufnahme Nummer 4, welche das Dorf Labbezanga, „das schönste Dorf Afrikas“, zeigt. Des Fotografen Interesse für sie und ihr Dorf war den Bewohnern zunächst nicht geheuer: „Sie verdächtigten mich, ein Agent der Regierung zu sein, die das Dorf von der Insel im Niger auf das Festlandufer umsiedeln wollte, aus keinem stichhaltigeren Grund als dem administrativer Bequemlichkeit. Sogar mit militärischer Intervention hatte sie gedroht. Nur zögernd schlossen sich die Ältesten des Dorfs meinem Argument an, dass meine Bilder ihre Interessen, nicht die der Regierung fördern würden. Wie es sich in den Folgejahren zeigte, hatte ich recht: mein Flugbild garantierte den Einwohnern Labbezangas die Bleibe. Es wurde in Zeitschriften und auf Plakaten zigmillionenmal vervielfältigt. Und die malische Regierung sah schliesslich ein, was sie an dem Juwel auf der Insel im Niger hatte. Heute lockt sie mit dem ‚schönsten Dorf Afrikas’ Touristen an, von Umsiedlung ist keine Rede mehr.“

Georg Gerster erwähnt in seiner Einführung auch, dass einige seiner Aufnahmen als Wandschmuck in Spitälern hängen („schön“ sowie „heilsam für Körper, Seele und Geist“ waren die Auswahl-Kriterien). Dass diese Luftbilder in der Tat heilsam sein können, zeigt die Erfahrung eines Patienten, der nach einer Amputation in eine Daseinskrise stürzte, eindrücklich: „Ich wollte nicht mehr leben“, sagte er später. „Aber dann bewegte ich während des monatelangen Klinikaufenthalts meinen Rollstuhl immer wieder vor die Bilder und meditierte. Die Bilder gaben mir den Mut zum Leben zurück.“

Georg Gerster
Weltbilder
70 Flugbilder aus den sechs Erdteilen
Schirmer/Mosel, München
_______

China ist nicht ganz anders

Damit es gleich gesagt ist: Zwei der in diesem schmalen Band versammelten vier "Essays in global vergleichender Kulturgeschichte" sind bereits in anderen Verlagen erschienen und zwar noch gar nicht so lange zurückliegend: 'Komplexe Kulturen' in 2006 (Bautz), 'China - eine altsäkulare Zivilisation' in 2008 (Romero Haus). Die Texte über 'Chinesisches in europäischen Alphabetschriften' und 'Die Schweiz - ein Studienobjekt interkultureller Politologie' sind in dieser Form noch nicht publiziert worden.

Es sei an der Zeit, über einfache Zweiteilungen wie Osten und Westen, Christentum und Islam, Europa und China hinauszukommen, liest man in der Einleitung. Unterstrichen wird dies mit einem sehr schönen Zitat von Hermann Hesse, der im Dezember 1921 in der NZZ schrieb: "... wir sehen im alten China Hinweisungen auf eine Denkart, welche wir allzusehr vernachlässigt haben; wir sehen dort Kräfte gepflegt und erkannt, um welche wir uns, mit anderem beschäftigt, allzu lange nicht mehr gekümmert haben."

Man müsse sich vor den grossen Vereinfachern hüten, schreibt Holenstein, der selber keiner ist, sondern ein differenziert argumentierender Intellektueller, der sich wohlformuliert und verständlich auszudrücken versteht. Das liest sich dann zum Beispiel so:

"Zu keiner Zeit waren die konventionellen Grenzen Europas auf der ganzen Linie zugleich klimatische, ethnische, staatliche, ökonomische, sprachliche, religiöse oder Mentalitätsgrenzen. Selbiges gilt für Südasien (Indien), das von der übrigen asiatischen Landmasse geographisch deutlicher abgegrenzt ist als Europa. Erst recht gilt dies für das "Mittelland" Zhongguo (China) mit seiner unbeständigen Ausdehnung, seinen Aufspaltungen, Sezessionen und Fremdherrschaften, mit seinen freiwilligen und unfreiwilligen Tributstaaten und mehr oder weniger sinisierten, abwechselnd sinophilen und sinophoben Nachbarregionen.
Im gleichen Klima gedeihen Raub- und Beutetiere und spalten sich die Menschen in Kriegsbefürworter und Kriegsgegner. Sprecher der gleichen Sprache gehören verschiedenen Religionen an. Anhänger der gleichen Religion pflegen eine untertschiedliche Philosophie, eine rationalistische die einen, eine mystische die anderen. Im gleichen industrialisierten Staat gibt es Kapitalisten und Sozialisten."

Wie kommt das? Warum sind kulturelle Traditionen nicht wirklich homogen? Holenstein lesen, kann man da nur sagen. Gescheite Überlegungen dazu finden sich im Essay 'Komplexe Kulturen'.

In 'China - eine altsäkulare Zivilisation' wird dargelegt, dass in China die Trennung von Religion und Moral (die der Autor gewichtiger für eine säkuläre Gesellschaft hält als die formelle Trennung von Kirche und Staat) eine Selbstverständlichkeit ist, und zwar seit bereits zweieinhalbtausend Jahren (am Rande: unter Tausenden von Jahren geht in China gar nichts: jeder Besucher des Landes wird innert kürzester Zeit darauf hingewiesen, dass es sich bei der chinesischen um eine 5'000jährige Kultur handelt). Bemerkenswert ist übrigens, dass diese Trennung kulturkampflos erworben wurde.

Im Essay "Chinesisches in europäischen Alphabetschriften: Ein Versuch in vergleichender Schriftgeschichte" wird im Teil über 'Terminologische Vorabklärungen' darauf hingewiesen, dass wer "über elementare sprachwissenschaftliche und/oder schriftgeschichtliche Kenntnisse" verfüge, diesen Abschnitt "selbstverständlich überspringen" könne. Anders gesagt: der Text setzt ein ziemlich ausgeprägtes einschlägiges Interesse voraus. Das gilt auch für den vierten und letzten Essay, der sich jedoch nicht mit sprachwissenschaftlichen und schriftgeschichtlichen sondern mit juristischen Fragen auseinandersetzt. Auch hier findet man wieder den Hinweis, dass sich die Kulturen gar nicht so unterscheiden, sondern dass man in der Regel in der einen Kultur etwas in den Vordergrund rückt, was in der anderen im Hintergrund bleibt. So sind zum Beispiel informelle Konfliktlösungen, die in Japan und China prominent vertreten sind, auch der Schweiz nicht fremd (Deutschland hingegen schon, möchte man da sofort beifügen). Worum es dem Autor ganz zentral geht, drückt er im letzten Absatz dieses Essays so aus:

"Ein Netz von typologischen Gemeinsamkeiten kreuz und quer über politische Grenzen, geschichtliche Entwicklungsläufe und geographische Entfernungen hinweg bietet Leitfäden an, denen folgend die politologische Verständigung und die politische Zusammenarbeit eine vielförmige Gestalt gewinnen können."

Noch dies: die offensichtlichen Sympathien, die Holenstein China entgegen bringt, treiben manchmal auch etwas eigenartige Blüten. Als der Dalai Lama im Jahre 2005, anlässlich der Jahrestagung der Society of Neuroscience in Washington D.C., zu einem Vortrag eingeladen wurde, protestierten 500 Neurowissenschaftler, die vorwiegend chinesischer Abstammung und in den USA tätig waren. In Erwägung ziehen könnte man, meint Holenstein, dass der Protest nicht nur, wie die Presse unterstellte, aus Willfährigkeit gegenüber der chinesischen Regierung erfolgte, sondern "auch damit zu tun haben könnte, dass in China in der Vergangenheit die Kritik an der buddhaitischen Religion immer wieder mit dem Obskurantismus und Zelotentum begründet wurde, denen gegenüber buddhaitische Mönche wie Anhänger auch aller anderen grossen Religionen nicht immer immun waren. Religiöses Schwärmertum und von charismatischen Religionslehrern genährte Unruhen sind im allgemeinen Geschichtsbewusstsein in China präsent geblieben und werden von einem Teil der Regierenden gezielt präsent gehalten. Entsprechend ist keineswegs bloss die Regierung möglichen Anfängen in die Richtung überempfindlich auf der Hut." Das kann schon sein, doch ohne dass dem Leser der Wortlaut dieses Protestes mitgeteilt wird, bleibt dies eine ziemlich obskure Behauptung.

Elmar Holenstein
China ist nicht ganz anders
Ammann Verlag, Zürich 2009
______

Brasilianische Begegnungen

Markus ist ein Freund und meint es sicher gut.
Erstaunlich also, dass ich ihm zuhöre. Gut möglich, dass ich zu erschöpft, zu ausgelaugt oder für einmal zu gleichgültig bin, um zu widersprechen Und noch erstaunlicher, dass ich mich ein paar Wochen später noch erinnere, was er gesagt hat, und es dann sogar umsetzte. Weil mir gar nichts andres übrig blieb.

‚Sag einfach mal nichts, hör einfach nur zu’, hatte Markus, der genau so gerne redet wie ich auch, gesagt. Und gemeint, so würde ich garantiert die Frau meines Lebens kennen lernen

Kaum hatte ich die junge Frau am Strand von Maceio angesprochen, erzählte sie mir auch bereits ihr Leben, das ganze, und während sie also redete, vom geschiedenen Mann, von den Kindern, der Mutter und vom Studium, erinnerte ich mich an den Satz von Markus und dachte so bei mir, dass, auch wenn ich wollte (ich wollte nicht), ich bei dieser Frau mit Reden niemals zum Zug kommen könnte, weil die überhaupt gar nicht zu bremsen war. Mangels Alternative (die Frau war ausgesprochen hübsch) entschied ich mich zuzuhören (konkreter: abzuwarten). Leider musste sie jedoch, nachdem sie ausgeredet, eiligst (und ohne sich mit mir verabreden zu wollen) zur Vorlesung an die Uni.

Noch auf der Stelle beschloss ich, Markus’ Ratschlag in den Ordner „Sonstige: Sozialarbeiter, Psychologen etc.“ abzulegen. Das ist der Ordner, den ich fast gar nie öffne, also eine Art Papierkorb, den ich jedoch, im Gegensatz zum regulären Papierkorb, nicht leere, weil es ja sein könnte, das darin Befindliches vielleicht doch noch irgend einmal, man weiss schliesslich nie, von Nutzen sein könnte.

Und siehe da: ein paar Wochen später sass ich im Bus neben einer jungen, hübschen Frau (übrigens: nicht alle Brasilianerinnen sind jung und auch nicht alle sind hübsch – ich weiss wovon ich rede, ich bin in den letzten Monaten genug oft neben alten Männern, mittel alten Damen etc. etc. gesessen), die allerdings kein Wort mit mir redete. Eigenartigerweise ging mir der Spruch von Markus durch den Kopf und so sagte ich auch nichts. Eineinhalb Stunden lang. Dann musste die junge Frau aussteigen. Bevor sie dies tat, richtete sie das Wort an mich: sie gehe hier zur Schule, arbeite jedoch üblicherweise im Hotel Marupiara, lächelte sie, gab mir ihre Karte, ich gab ihr meine, und lächelte ebenfalls. Die Visitenkarte wies sie als Nilo Ferreira, Supervisorin der Rezeption, aus. Ich fühlte mich ganz beschwingt.

Als ich am nächsten Tag, leicht nervös und hoffnungsfroh, das Hotel Marupiara aufsuchte, mich nach ihr erkundigte und die Karte vorwies, wurde ich gebeten, einen Moment Platz zu nehmen. Zehn Minuten später tauchte ein mittelalterlicher, übergewichtiger und stark schwitzender Herr auf, der sich als Nilo Ferreira, Supervisor der Rezeption, vorstellte. Oh, sagte ich und zeigte ihm errötend die Karte (da stand in der Tat Supervisor und nicht etwa Supervisorin drauf), das müsse ein Missverständnis sein. Nun, die Person auf der Karte, das sei er, lächelte er. Aha, lächelte ich. Ob hier vielleicht eine junge, hübsche Frau, die einmal die Woche zur Schule ... Nilo lächelt so wie die lächeln, die von Berufs wegen lächeln müssen. Da es nicht so aussieht, als ob er nächstens in die junge Frau mutieren würde, grinse ich weiterhin blöd, stehe auf, schüttle ihm die Hand und verlasse das Hotel Marupiara so beschwingt wie es mir gerade noch möglich ist.

***

“Centro Cultural Brasil – Alemanha” steht auf einem Schild in der Nähe meines Hotels in Recife, doch niemand, den ich frage, weiss, wo es sich befindet. Schliesslich versuch ich’s an einer Tankstelle. Der junge Tankwart fragt erwartungsfroh, ob ich aus Deutschland sei? Aus der Schweiz, lächle ich und mache mich darauf gefasst, mir im akzentschweren Infinitiv ein paar Banalitäten zu meinem Herkunftsland anhören zu müssen.

Woher aus der Schweiz? will der Tankwart wissen. Aus der Ostschweiz, an der Grenze zu Liechtenstein und Österreich. Er strahlt. Er kenne vor allem Bern und Umgebung, sagt er auf Schweizerdeutsch, mit leichtem Akzent, aber recht fliessend. Ob er Auslandschweizer sei? Nein, nein, er sei einfach mal sechs Monate im Land gewesen, es habe ihm gefallen, die Sprache habe ihn interessiert, deshalb.

Das “Centro Cultural Brasil – Alemanha” ist ganz in der Nähe, doch der Portugiesisch-Kurs recht teuer. Ich überzeuge mich in Nullkommanix, dass man eine Sprache nur durch Praxis, jedoch nie in einer Schule lernt.

Zwei Tage später treffe ich in einem teuren Touristenort auf einen Strassenhändler, der handgemachte Ledersachen feilbietet. Zu stolzen Preisen. Die erklären sich eben mit der Handarbeit, sagt er. Mir leuchtet das zwar ein, doch der Preis ist mir doch zu hoch.
Wir unterhalten uns auf Spanisch. Ich erzähle ihm von meiner gerade zwei Tage alten Theorie, dass man eine Sprache nur durch Praxis lernt. Er stimmt zu, sagt, er habe sein Spanisch auch so gelernt; er spricht es gut. Dann fügt er hinzu, auch Englisch habe er so gelernt. Und gibt mir eine Kostprobe. Sie klingt grotesk und in jeder Beziehung daneben.
Ich wechsle schnell wieder zu Spanisch und beschliesse, mir das mit dem Sprachkurs doch noch einmal zu überlegen.

Als Fremder in einem fremden Land

Als Fremder in einem fremden Land hat man das Privileg, sich daneben zu benehmen, aus dem Rahmen zu fallen, Dinge zu wagen, die man sich zuhause nie trauen würde. All das wird einem nachgesehen. Weil man nicht zählt. Jedenfalls nicht richtig. Als Mensch. Als wandelnder Geldbeutel schon. Wer länger (viele Jahre also) in einem fremden Land (die USA, wo fast alle eingewandert sind, ist da wohl eine Ausnahme) lebt, bringt es im besten Fall zum Status eines Eingeheirateten. Und dass ein solcher (Frauen sind mitgemeint) nichts zu sagen hat, nie richtig Ernst genommen wird, das weiss ja nun wirklich jeder.

Als ich im Jahre 2002 an einer privaten chinesischen Universität Englisch unterrichtete, gab es da Minibusse, die zwischen der Universität und der knapp eine Stunde entfernten Stadt verkehrten. Die Buschauffeure fuhren derart halsbrecherisch, dass ich jeweils um mein Leben fürchtete. Ich fragte die Studenten: ob sie bei diesen Busfahrten keine Angst hätten? Doch, doch, alle hatten sie Angst, doch da könne man eben nichts machen…
Ich schon, ich bin Ausländer. Ich lasse mir auf ein Blatt Papier auf Chinesisch schreiben „Bitte langsam fahren“ und halte den Zettel dem Busfahrer beim nächsten Mal vor die Nase. Dieser grinst, nickt und siehe da, die Fahrt geht in ganz zivilisiertem Tempo vonstatten. Bei der Rückfahrt mache ich es genauso. Und siehe da, auch dieser Fahrer fährt (mir zuliebe, wie ich mir vorstelle) mit mässigem Tempo (das geht gar nicht anders in der Stadt). Doch kaum ist er aus der Stadt raus, drückt er wie gewohnt aufs Gaspedal. Ich sitze zuhinterst im Bus und brülle sehr laut auf Englisch „Hey, spinnst Du eigentlich?“ Alle Fahrgäste drehen sich um und fragen sich wohl, was für ein Heini solchen Lärm macht. Ich hätte auch auf Schweizerdeutsch brüllen können, meine Worte verstand eh keiner, meine Botschaft hingegen schon, jedenfalls der Fahrer. Ab da verlief die Fahrt wieder gemächlicher. Als ich an meinem Zielort aussteige, lacht der Fahrer und schüttelt mir die Hand.

In China ist man als Ausländer ein Exot. Schon weil man nicht chinesisch ausschaut. Noch exotischer ist der Ausländer, der Chinesisch spricht (um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen: ich gehöre nicht dazu). Da freuen sich die Chinesen drüber, aber sie wundern sich auch und einige sind misstrauisch, fragen sich, ob man vielleicht ein Spion sein könnte. Übrigens: einige des Chinesischen mächtige Westler sind christliche Missionare (und christliches Missionieren ist in China verboten) und manchmal auch Spione. Am exotischsten aber ist der Chinese, der kein (oder nur wenig) Chinesisch kann. Chris zum Beispiel ist als Kind chinesischer Eltern in Kanada aufgewachsen, spricht nur gerade ein paar Brocken Chinesisch und wird deshalb von den Chinesen mit grosser Reserviertheit behandelt: Was bildet der sich eigentlich ein? Glaubt der eigentlich, er sei was Besseres?

Als ausländischer Lehrer kann ich mir Fragen erlauben, die sich ein chinesischer (oder mit China gut vertrauter) Lehrer wohl kaum trauen würde. Und ich tue es auch: Wie es komme, dass sie die gelbe Rasse genannt werden? – ich sähe hier nämlich niemanden mit gelber Hautfarbe. Sicher, einige hätten dunklere, andere hellere Haut. Aber gelb? Niemand will sich äussern, einige grinsen, andere tuscheln. Ich hätte gehört, in China würden Hunde gegessen – wer von Ihnen hat schon einmal Hund gegessen? Einer. Ihm ist schlecht geworden. Ich könne vom Aussehen her nicht zwischen einem Koreaner und einem Chinesen unterscheiden – ob Sie es könnten? Sie können es, zu meinem nicht geringen Erstaunen, offenbar auch nicht.

Auch wenn man sich in fremden Ländern mehr Freiheiten zugesteht als in heimischen Gefilden, überreizen sollte man die Dinge nicht.
Einmal bin ich von einem Studenten (dem Klassensprecher, also einem linientreuen Kommunisten) zum Essen eingeladen worden. Ich werde mein Essen selber bezahlen, und er seines, habe ich gleich zu Beginn klar gestellt. Der Student hat etwas gezwungen gegrinst, doch akzeptiert.
Das ist nicht sehr höflich? Ja, stimmt. Wieso hab ich es also gemacht? An dieser Schule war es gang und gäbe, dass Studenten ihre Lehrer einluden, sei es zum Essen, sei es zu einem Besuch bei den Eltern. Das wurde gemacht, um sich die Lehrer gewogen zu machen. Nahm der Lehrer die Einladung an, so stand er künftig in der Schuld des Studenten (das chinesische System basiert darauf, sich einander gegenseitig zu verpflichten) und von ihm wurde erwartet, dass er den Schüler beim Examen nicht durchfallen lassen würde. Ich selber bin mal ganz offen gefragt worden, was ein bestandenes Examen koste.
Während des Essens spuckte der Student Knochenstückchen, die er ja, zugegeben, schlecht hinunter schlucken konnte, neben sich auf den Teller. Ich fand das grauenhaft. Doch was tun? Es ihm, da das hier offenbar gängiges Benehmen war, nachmachen? Ging nicht, auch weil ich keine einschlägige Übung hatte und womöglich was weiss ich wohin spuckte. Doch ich wollte auch nicht. Was ich auch nicht wollte: ihm zuzuschauen, wie er (zugegeben, gekonnt) neben den Teller spuckte. Und so guckte ich halt einfach weg. Und manchmal – angewidert und fasziniert zugleich – auch wieder hin.

Als Illegaler auf dem Weg nach Europa

Fabrizio Gatti, ein italienischer Journalist und, gemäss dem 'Nouvel Observateur', "der neue Wallraff des Journalismus", beschreibt in diesem grossartigen Buch, seine Reise als "Illegaler auf dem Weg nach Europa" (so der Untertitel dieser aufschlussreichen Reportage).

Immer mal wieder frage ich mich, wie Leute ohne Papiere es wohl aus Afrika in die Schweiz schaffen. Aus Reiseschilderungen von Asylbewerbern, von denen ich schon einige gehört habe, konnte ich mir noch nie ein wirkliches Bild machen - so hatte ich bisher überhaupt keine Ahnung, wie gefährlich das Durchqueren der Wüste ist - , Gatti hat nun diese Lücke gefüllt. Das Buch sollte Pflichtlektüre sein. Nicht nur für Leute, die sich mit Migration beschäftigen, sondern für alle, denn Gatti schildert eindrücklich den Lebens- und Überlebenskampf von Menschen, die nicht das Glück hatten, in materiell privilegierte Umstände hineingeboren zu werden.

Der Mensch hat die Welt geordnet, um sich darin nicht allzu verloren zu fühlen. Eine dieser menschlichen Ordnungsvorstellungen drückt sich in amtlichen Dokumenten aus. Praktisch heisst das, dass wer weder über eine Geburtsurkunde, eine Identitätskarte oder einen Reisepass verfügt, so recht eigentlich keine Rechte hat. So hält Gatti über einen Afrikaner, der gerade von Italien in sein Herkunftsland abgeschoben werden soll, fest: "Dabei fehlt ihm nur ein Stück Papier, damit er in Europa bleiben könnte: 25x15 cm, ein Lichtbild, ein bisschen Tinte, ein Stempel." Dass sowas wirklich entscheidend sein soll, ist jemandem, der sein Leben riskiert hat, um nach Europa zu gelangen, kaum zu vermitteln. Ehrlich gesagt: mir auch nicht.

Gatti hat es unternommen, von Dakar mit dem Flüchtlingsstrom über Niamey, Agadez und Dirkou nach Europa zu kommen. "Eine schwarze Rauchwolke verkündet, dass der Motor angelassen worden ist. Zweimal hupt der Fahrer. Man muss schnell hinrennen und sich wie ein Seemann beim Entern über die Bordwand hinaufschwingen. Der Lkw fährt los, obwohl es noch nicht alle Passagiere geschafft haben. Die letzten klammern sich an die Kanister und riskieren unter die Räder zu kommen. Jetzt ist es noch viel enger." Nicht nur, dass die Reise beschwerlich ist, die Reisenden werden auch von Polizisten und Soldaten (die selber wirtschaftlich alles andere als gut gestellt sind) nach Strich und Faden ausgenommen - es ist ein veritabler Höllentrip, den Gatti da schildert. Und dann sind da noch die Hauptverdiener, die Menschenschmuggler: "Endlich ist der Lastwagen voll. Mindestens hundertfünfzig Personen. Hundertfünfzig Tickets zu fünfundzwanzigtausend Francs macht drei Millionen siebenhundertfünfzigtausend Francs. Fast sechstausend Euro. Derjenige, der Achmed den schrottreifen Lkw abgekauft hat, hat die Unkosten schon herein. Mit einer einzigen Fahrt. Das ist, wie wenn eine Fluggesellschaft den Kauf eines Flugzeugs mit einem einzigen Flug abschreiben könnte. Doch die Einnahmen aus dem Menschenschmuggel haben im weltweiten Transportgewerbe nicht ihresgleichen."

Aus den Medien erfahren wir immer wieder von Flüchtlingen, die vor Lampedusa aus dem Meer gefischt wurden (von denen, die auf dem offenen Meer umkommen, hören wir selten), die Fernsehbilder zeigen uns dann jeweilen, wie den durchnässten Ankömmlingen Decken abgegeben werden, was wir jedoch nicht zu sehen kriegen, ist, wie die Geschichte dann weitergeht: "Auf dieser Insel hat Italien ein Internierungslager eröffnet, das bisher kein Aussenstehender ohne Voranmeldung betreten hat. Anwälte und Abgeordnete, ja sogar Vertreter der Vereinten Nationen müssen tagelang auf eine Genehmigung warten. Und wenn sie das Lager betreten, bekommen sie nur untadelige Verhältnisse zu sehen. Wenige Internierte. Saubere Schlafsäle. Reichlich Essen. Obwohl tagtäglich Boote landen. Was machen sie mit all denen, die dort eingesperrt sind?"

Als eine "erschütternde Odyssee von Millionen heimlichen Einwanderern" hat der "Corriere della Sera" Gattis "Bilal" treffend charakterisiert. Doch es ist mehr: es ist dringend nötige Aufklärung, da es nicht nur Schicksale aufzeigt, sondern Zusammenhänge deutlich macht ("Hier ist Zeit nicht Geld, sondern eine Dimension, die noch den Menschen gehorcht und nicht der Uhr ... die Komplizenschaft zwischen Heer, Polizei und der Menschenhändlermafia ..."). Zudem bringt es einen gelegentlich auch zum Lachen ("Ach mei, wenn wir unseren Humor nicht hätten", pflegte mein lieber Freund Wamse zu sagen): Als Gatti sich schwach und fiebrig fühlt und Malaria vermutet, sucht er in Agadez einen Arzt auf und sagt ihm, er habe Mefloquin dabei: "Mefloquin?" der Arzt runzelt die Stirn: "Das Mittel hat schwerste Nebenwirkungen. Wollen Sie in der Sahara Halluzinationen bekommen? Gegen Mefloquin entwickeln sich in ganz Afrika resistente Erregerstämme." "In Italien verschreiben die Ärzte Mefloquin." "Lassen sie das sein. Kaufen Sie in der Apotheke Artemisintabletten. Die Chinesen benutzen das Mittel seit dreitausend Jahren gegen Fieber. Kennen Sie es?" "Nein." "Es ist ein Pflanzenauszug aus dem Einjährigen Beifuss, der Artemisia annua. In China heisst er Qinghaosu." Der Arzt schreibt ihm ein Rezept auf den Namen Flagyl aus - es ist so ziemlich das einzige Medikament, das sie in der Apotheke haben. Der skeptische Gatti erkundigt sich per SMS bei einem befreundeten Apotheker in Italien, was es damit auf sich habe: "Flagyl gegen Vaginalinfektionen. Machst du eine Geschlechtsumwandlung?"

Fabrizio Gatti
Bilal
Verlag Antje Kunstmann, München 2010
_______

In Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile

Es gibt Bücher (sie sind selten), von denen fühlt man sich sofort dermassen angetan, dass man gleich von der ersten Seite wegdaraus vorlesen (oder zitieren) will. Andreas Altmanns Reise durch einen einsamen Kontinent gehört dazu. Nicht weil er so wahnsinnig gut schreibt (sprachlich ist er nicht so überzeugend, als Erzähler hingegen schon – siehe die nachfolgenden Auszüge), sondern weil er etwas erlebt und Eigenständiges zu sagen hat. Okay, nicht von der ersten, von der zweiten Seite, dem Vorwort, weg; die allererste Seite mit den ärgerlich banalen Zitaten von David Hockney {Die Menschen sind das Interessanteste von allem}, Teófilo Stevenson {Es gibt nichts Schöneres als das Leben} und der wenig inspirierenden Einsicht von Jorge Luis Borges {Ich habe die schwerste Sünde begangen, die ein Mensch begehen konnte: Ich war nicht glücklich} - was für ein Schmarren: als ob es eine Pflicht gäbe, glücklich zu sein (eine solche Pflicht anzunehmen, ist eher ein Rezept, nicht glücklich zu werden) - hätten getrost weggelassen werden können.

Zum Vorwort also: „Ich reise durch den Kontinent wie einer aus dem 21. Jahrhundert. Wo immer ich bin, bin ich vor Ort, bin da. Und bin gleichzeitig vernetzt. Ich höre eine Radionachricht, ich lese die Zeitung, irgendwo flimmert ein Fernseher, E-mails warten. Sie alle lösen Querverbindungen aus, Hintergedanken, bringen den Fleck, an dem ich mich gerade aufhalte, in Verbindung mit der Welt. Jeder Moment zeigt mir, dem Fremden, wie sehr ich mich von den anderen unterscheide. Und wie sehr wir uns ähneln.“

In Bogotá trifft er auf Seymour, einen Autoschlosser aus Wisconsin. „Lange Zeit hat der 52-jährige mit sich gekämpft, bevor er hierher kam, lies sich immer wieder einschüchtern von den Gräuelberichten der Presse. Gerade hat seine Regierung vor Reisen durch Kolumbien gewarnt. Diesen Aufruf quittiert der Mechaniker mit dem Satz: ‚Ich bin froh, dass ich nicht mehr hinhöre. Wir sterben nicht an den Gefahren, wir sterben an unserer Angst vor diesen Gefahren.’ Ich stecke die Mailadresse des Handwerkers ein. Brauche ich einen klugen Gedanken, werde ich mich melden.“

„Beim Frühstück lese ich, dass die Ciudad Bolívar die herausforderndste Gegend der Hauptstadt ist, mit den meisten Banden und den schiesswütigsten Arbeitslosen, fast jeden Tag ein Mord, ein Totschlag … Ich will nicht sterben, ich weiss nur aus Erfahrung, dass erstens grundsätzlich und grandios übertrieben wird, dass zweitens ein Weisser (ohne Kamera, schmucklos und zu Fuss) nicht sofort standrechtlich erschossen wird und dass ich drittens Geschichten suche.“ Eine 74-Jährige, 154 Zentimenter grosse Frau, nimmt sich seiner an, führt ihn zu ihrer „Behausung, vier Wände mit einem Blechdach, zur Strassenseite zwei vergitterte Fenster, die Löcher mit Pappe verstopft … Meist schaut sie fern, ab 17 Uhr durchgehend. Dann liegt sie im Bett und starrt ins dunkle Eck, aus dem es hell flimmert. Sie mag alles, Hauptsache, sie hört ‚Stimmen’. Ich begreife für einen Augenblick den Nutzen eines Geräts, das sie hier ‚caja tonta’ nennen. Und hätte die Idiotenkiste keinen anderen Sinn, als die Einsamkeit von Señora Curieta zu lindern. Ohne die Stimmen würde sie noch verlassener im Bett liegen.“ (Eine junge Frau im thailändischen Pattaya, die auf einem überdachten Markt Kleider verkauft, geht mir durch den Kopf. Sie guckt eine chinesische Serie im Fernsehen an und sagt lachend: das Gute daran sei, dass es nicht darauf ankomme, ob man hinschaue oder nicht).

Überzeugend an diesem Buch ist nicht zuletzt, dass der Autor einlöst, was er im Vorwort gleichsam als sein Reiseprogramm angekündigt hat, nämlich vor Ort zu sein und gleichzeitig in Verbindung mit ganz Anderem (Gedanken, Erinnerungen etc.) zu stehen, denn ganz genau so findet Reisen statt. Besonders schön zeigt sich dies im folgenden Abschnitt:
„Auf der Fahrt zurück in die Stadt sitzt mir im Bus ein Ehepaar gegenüber. Unschwer zu erkennen, dass beide aus einfachsten Verhältnissen stammen. Auffallend auch hier das aussergewöhnlich attraktive Gesicht der Frau. Seltsamerweise starrt ihr Mann sie nicht an, nicht bewundernd, nicht atemlos. Er sitzt und döst. Weiss er überhaupt, wie schön sie ist? Verwittern Frauen deshalb so schnell (und auf diesem Kontinent schneller als sonstwo) weil bald kein Bewunderer mehr sie bewundert? Weil aus der Göttin ein Haushaltsgerät wird, das ohne grösseres Aufsehen zum (vielfachen) Brutkasten mutiert, zur Köchin und Wäscherin?
Ich erinnere mich an den Kommentar eines arabischen Freundes. Saïd sprach davon, dass der Schleier eine Art Todesurteil für die Frauen seines Landes bedeute. Weil keine Blicke, keine Männerblicke, mehr die Augen einer Frau träfen. Nichts in der Welt dränge mehr darauf, dass die Schöne schön bleibe. Der Schleier als Sargdeckel, der die Toten von den Lebenden scheidet.“

Andreas Altmanns Reise durch einen einsamen Kontinent (trotz des misslungenen Titels – wie kann ein Kontinent einsam sein?) ist eine spannendes, anregendes und lehrreiches Buch, auch wenn man nicht alle seiner Vorlieben („Ich mag die Listigen, einen wie Raúl, der von der Dummheit der anderen lebt.“) teilen mag.

Warum der Autor wohl reist? Ist er womöglich auf der Suche nach dem Glück? (was dann auch das Borges-Zitat am Buchanfang erklären würde). Ein guter Grund wäre dies allemal. Jedenfalls will er wissen, was die Leute in Ecuador glücklich macht. In Otavalo fragt er eine Bäckerin („Alles, was mich umgibt“), in Guayaquil einen Taxifahrer („Klar bin ich glücklich. Weil ich nicht mehr verlange, als ich habe, ich träume nicht“). Schön, dass er fragt. Und schön, die Antworten, die er kriegt.

Andreas Altmann
Reise durch einen einsamen Kontinent
Unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile
DuMont Buchverlag, Köln 2008

Erstveröffentlichung auf http://rezensionen.ch, April 2009
_______